Vorstellung am 17. Dezember 2021 (Premiere am 5. Dezember 2021)
Ein traumhaft schönes Gesamtkunstwerk
Ein großes Weihnachtsgeschenk hat die Oper Frankfurt mit ihrer jüngsten Neuproduktion dem Publikum gemacht. Genauer gesagt: Der Regisseur Christof Loy hat es der Oper Frankfurt und ihrem Publikum gemacht. Ihm ist es zu verdanken, daß von den ohnehin nicht sonderlich bekannten Opern Rimsky-Korsakows nun ausgerechnet eine der unbekanntesten mit dem eigenartigen Titel Die Nacht vor Weihnachten in den Spielplan aufgenommen wurde.
Loy hatte, wie er in dem wie immer gut gemachten und informativen Produktionsvideo erzählt, eine Schallplattenaufnahme dieser musikalischen Rarität entdeckt und Feuer gefangen. Es ist ihm gelungen, den Frankfurter Generalmusikdirektor Sebastian Weigle anzustecken, der für seine besondere Affinität zu russischer Musik bekannt ist. Und so ist eine Produktion entstanden, die das Publikum bezaubert, erheitert, beeindruckt, bewegt und am Ende restlos begeistert zurückläßt: Bezaubert von der traumhaft schönen Musik, die Weigle mit seinem Orchester zur vollen Entfaltung bringt, erheitert von den lustvoll ausgespielten komödiantischen Szenen, beeindruckt von dem Einsatz schwindelerregender Akrobatik und bewegt von der Poesie der Ballettszenen.
Ja, es gibt tatsächlich klassisches Ballett mit Spitzentanz und Tutu! Die phantasievolle Choreographie von Klevis Elmazaj wirkt dabei zu keinem Zeitpunkt altbacken, hat es aber auch nicht nötig, sich in ihren klassischen Elementen ironisch zu geben, sondern fügt sich organisch in die Inszenierung ein.
Das Stück nach einer Erzählung von Nikolai Gogol verwebt Märchen und Mythen der ukrainischen Folklore mit komödiantischen Szenen und überwölbt dies mit einer Liebesgeschichte. Der Schmied Wakula begehrt die schöne Oksana. Die erweist sich als kapriziös und stellt dem Verehrer die Aufgabe, ihr die Schuhe der Zarin als Brautgeschenk zu bringen. Das gelingt ihm schließlich mit Hilfe des Teufels, der ihn durch die Lüfte zum Zarenhof fliegen läßt. Zuvor hatte der Teufel Wakulas Mutter Solocha, einer attraktiven Hexe, die Liebschaften zur gesamten männlichen Dorfprominenz unterhält, vergeblich dabei Hilfe geleistet, die Verbindung des jungen Paares zu vereiteln. Mond und Sterne hatten die beiden dazu bei einem Himmelsritt geraubt, das Dorf so in Finsternis getaucht und obendrein einen Schneesturm entfesselt.
Diese märchenhaft verworrene Geschichte wird noch mit Elementen eines heidnischen Mythos zur Wintersonnenwende angereichert, in welchem böse Geister sich einen Kampf mit den Frühlingsgottheiten liefern.
Läßt sich so etwas überhaupt inszenieren? Und wie! Christof Loy hat dabei auf Deutungen, Metaebenen oder Aktualisierungen verzichtet, läßt das Stück für sich sprechen und bringt es zum Leuchten. Er präsentiert pralle Tableaus und poetische Bilder. Dabei darf er mit seinen Ausstattern aus dem Vollen schöpfen. Johannes Leiacker hat ein Einheitsbühnenbild entworfen, welches sich als ideale Spielwiese für den funkensprühenden Einfallsreichtum der Regie erweist. Auf einem transparenten Zwischenvorhang wird ein nächtlicher Sternenhimmel mit kosmischer Weiterung gezeigt.
Der raffiniert schlichte Bühnenkasten erweist sich als dessen Negativ: auf hellem Grund funkeln schwarze Sterne. Je nach Bedarf wird dieser hohe und helle Raum mit wenigen Requisiten ausgestattet. Die Kostüme von Ursula Rezenbrink zitieren dezent ukrainische Tracht, in der Szene am Zarenhof zeigen sie prächtige Barock-Ballkleidung. Der Clou der Inszenierung ist neben den Ballettelementen der Einsatz von Flugakrobatik. Gleich zu Beginn reiten Hexe und Teufel vom rauchenden Kamin eines Daches aus in den Himmel. Der Flug des Schmieds zum Zarenhof durch die Lüfte vollzieht sich ebenfalls vor den staunenden Augen des Publikums, und auch das Treiben der heidnischen Geister und Gottheiten spielt sich in schwindelerregender Höhe ab. Schon für die bravouröse Flugchoreographie von Tänzern und Sängern an dünnen Drahtseilen (Stuntkoordination von Ran Arthur Braun) lohnt sich ein Besuch der Aufführung.
Die restlos überzeugende Besetzung präsentiert russische Gastsänger in den tragenden Partien und schöpft für die vielen kleinen Charakterrollen aus dem üppigen Reservoir des hauseigenen Ensembles. Mit attraktivem Spinto-Tenor gibt Georgy Vasiliev den Wakula. Julia Muzychenkos Sopran erweist sich durch seine Verbindung eines klaren, mitunter mädchenhaften Tones mit staunenswerten Kraftreserven als Idealbesetzung für die Oksana. Mit dunkel abgetöntem, üppigem Mezzo gibt Enkelejda Shkoza die Solocha als reife, aber immer noch verführerische Frau. Alexey Tikhomirov verfügt als Oksanas Vater Tschub über einen saftigen, sonoren, „echt russischen“ Baß. Andrei Popov ist mit seinem hellen Charaktertenor eine treffliche Besetzung für den Teufel. Die Frankfurter Stammbesatzung muß sich dahinter nicht verstecken. Anthony Robin Schneider (Panas) und Thomas Faulkner (Pazjuk) zeigen, daß auch sie über profundes Baßmaterial verfügen, das in russischen Partien prächtig zur Geltung kommt. Peter Marsh stellt seine charakteristisch helle Stimme in den Dienst der scharf umrissenen Karikatur eines bigotten Geistlichen. Sebastian Geyer gefällt mit seinem Kavaliersbariton in der Partie des Bürgermeisters. Bianca Andrew schließlich verleiht mit ihrem edel timbrierten Mezzo der Zarin Anmut und Noblesse. Der von Tilman Michael vorbereitete Chor überzeugt mit einem dichten und warmen Klangbild.
Das Publikum zeigt sich hingerissen von diesem erfrischenden, herzerwärmenden Gesamtkunstwerk aus Musik, Spiel, Tanz und Akrobatik. Dieses unverhoffte Weihnachtswunder hat das Zeug zum Repertoireliebling. Wegen der pandemiebedingten Reduzierung der Zuschauerplätze sind bereits sämtliche Folgevorstellungen ausverkauft. Die Oper Frankfurt bemüht sich darum, Zusatzvorstellungen zu organisieren. Es ist dem Frankfurter Publikum zu wünschen, daß diese Produktion trotz ihrer enormen Anforderungen an die Sängerbesetzung und den großen technischen Aufwand von Choreographie und Akrobatik einen festen Platz in den Dezemberspielplänen der kommenden Jahre erhält.
Michael Demel / 20.12.2021
© der Bilder: Monika Rittershaus