Die Frankfurter Produktion von Eugen Onegin aus dem Jahr 2016 profitiert ganz wesentlich von den Schauwerten des Bühnenbildes (Katja Haß). Die Szene ist zeitlich vom zaristischen Rußland in ein Ostblockland der späten 1980er Jahre versetzt worden. Der Spielort ist ein gehobenes Restaurant, dessen Rückwand von einem kolossalen realsozialistischen Mosaik geprägt wird. Durch Drehung um 180 Grad gerät man in die weiß gekachelte Küche des Restaurants, wo anstelle von erntenden Landarbeitern nun Küchenhelfer Teig kneten. Durch Bühnenbild und stilechte Kostüme (Wojciech Dziedzic) gelingt ein Paradoxon: Rußland-Klischees, die in älteren Onegin-Inszenierungen gerne in Ausstattungsorgien ausgelebt wurden, werden hier mit Ostblock-Klischees jüngeren Datums ausgetrieben, die ihrerseits einen beträchtlichen optischen Reiz besitzen. So rücken Puschkins Figuren tatsächlich näher an die Erlebniswelt heutiger Zuschauer heran, zugleich aber weht ein Hauch von Nostalgie (oder „Ostalgie“) durch die Szene. Obwohl die Inszenierung zeitlich präzise verortet wird, gelingt der Darstellung von Figuren und Konstellationen die Wendung in das Zeitlose.
Im aktuellen Wiederaufnahmezyklus des „Eugen Onegin“ demonstriert die Oper Frankfurt einmal mehr die Leistungsfähigkeit des eigenen Ensembles. Das Haus am Main bietet gleich zwei alternative Hausbesetzungen für sämtliche Hauptrollen auf. In der besuchten Vorstellung imponierte Domen Križaj in der Titelpartie mit kraftvollem Bariton, der neben einer kernigen Mittellage auch über die nötige Mühelosigkeit bei den hohen Tönen verfügt. Elisabeth Reiter riß das Publikum mit ihrer jugendlich-frischen Tatiana zu verdienten Beifallsstürmen hin. Die fordernde Partie bewältigte sie souverän. Ihre Gestaltung beeindruckte insbesondere in der langen Briefszene, bei der sie eine staunenswerte Breite an dynamischen Möglichkeiten demonstrierte. Kudaibergen Abildin brachte für den Lenski einen idealen lyrischen Tenor mit, mit dem er gerade in der berühmten Wunschkonzertnummer „Kuda, kuda vï udalilis“ punkten konnte. Als ungewöhnlich junger Fürst Gremin bewährte sich Thomas Faulkner mit sonorem Baß. Ebenfalls ungewöhnlich jung für die Rolle von Tatianas Mutter Larina war Julia Moorman, die als ehemaliges Mitglied des Opernstudios zwar als „Sopran“ gelistet wird, hier aber sehr angemessene, warme Mezzotöne zeigte. Michael McCown servierte das Lied des Franzosen Triquet reizvoll und locker im Stile eines französischen Chansons.
Immerhin in zwei wichtigen Nebenrollen kamen zwei Gastsängerinnen zum Einsatz. Mit klangschönem, jugendlichem Mezzo gestaltete Anna Dowsley die Olga. Große Freude bereitete erneut das Wiedersehen mit Elena Zilio, welche bereits im Premierenzyklus die alte, weise und gegenüber Onegin zurecht mißtrauische Amme Filipjewa zu einer Hauptfigur aufgewertet hatte. Nach unseren Recherchen wurde die Sängerin im Jahr 1941 (!) geboren und debütierte im Jahr 1963. Optisch ist die zierliche alte Dame mit ihrer enormen Bühnenpräsenz ohnehin eine Idealbesetzung für diese Rolle. Unglaublich ist aber, über welch wunderbar klare, starke Stimme sie verfügt. Man ist es gewohnt, bei in Würde gealterten Sängerinnen und Sängern respektvoll auch die Alterung der Stimmmuskulatur bei der Bewertung ihrer Leistungen einzupreisen, Verschleißerscheinungen und technische Einschränkungen als Mittel zur Beglaubigung des dargestellten Charakters zu akzeptieren. Bei der Zilio muß man derartige Kompromisse nicht eingehen. Da gibt es keine Brüchigkeit, keine hörbaren technischen Einschränkungen, keine schrille Höhe oder dünne Tiefe.
Bei Frederic Jost kann man nur hoffen, daß sein Gaststatus in Frankfurt bald beendet wird und der Intendant einen angemessenen Platz für ihn im festen Ensemble findet. Denn diese herrliche Baßstimme, die im zurückliegenden Aufführungszyklus von Tschaikowskis Zauberin mühelos neben den Stars Asmik Grigorian und Claudia Mahnke bestehen konnte, möchten wir unbedingt öfter hören, nicht nur mit wenigen Tönen wie hier in der kleinen Partie des Saretzki.
Karsten Januschke führte das gut disponierte Orchester souverän durch die Partitur. Seine musikalische Auffassung des Stückes knüpfte an den von Sebastian Weigle etablierten unpathetischen, klar konturierten, aber trotzdem üppigen Orchesterklang an, bei dem er immer wieder eigene dramatische Akzente setzte.
Dieser Aufführungszyklus soll bereits der letzte sein. Reizvoll ist dabei die Alternativbesetzung der Hauptpartien mit (noch) jüngeren Sängern in den letzten beiden Vorstellungen am 28. Januar und 3. Februar.
Michael Demel, 20. Januar 2023
Peter I. Tschaikowski: Eugen Onegin
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 15. Januar 2023 (Premiere am 20. November 2016)
Regie: Dorothea Kirschbaum (nach einer Konzeption von Jim Lucassen)
Musikalische Leitung: Karsten Januschke
Frankfurter Opern- und Museumsorchester