Die Oper Graz setzt ihre Tradition fort, bei konzertanten Aufführungen prominente Persönlichkeiten aus Schauspiel und Film einzuladen – das ist grundsätzlich immer eine Bereicherung und bringt zusätzliche Bühnenatmosphäre in die Konzertsituation. Bei Griegs Peer Gynt waren dies im Jahr 2016 Cornelius Obonya und Sunnyi Melles, 2018 war es Maria Happel bei Bernsteins Candide und 2019 führte Birgit Minichmayr durch Webers Oberon. Diesmal waren es gleich drei profilierte Schauspielgäste, die uns Shakespeares Sturm in der Bühnenmusik von Jean Sibelius vermittelten: Anne Bennent, Markus Meyer und Sebastian Wendelin . Shakespeares „Der Sturm“ wurde in einer Textfassung und szenischen Einrichtung von Laura Olivi und unter der musikalischen Gesamtleitung von Chefdirigent Roland Kluttig aufgeführt. Immer freue ich mich, wenn ich ein mir bisher völlig unbekanntes Bühnenmusikwerk erstmals erleben kann. Gott sei Dank gibt es eine eigene Sibelius-Homepage und dort konnte ich zur Vorbereitung über dieses nur sehr selten aufgeführten Werks lesen:
„Der Sturm (Myrsky) entstand angeblich aus einem äußerlichen Anstoß, als Sibelius’ dänischer Verleger Wilhelm Hansen sich im Mai 1925 erkundigte: „Haben Sie Musik für das Schauspiel Der Sturm (Myrsky) komponiert? Det Kongelige Teater in Kopenhagen beabsichtigt dieses Schauspiel aufzuführen und möchte möglicherweise Ihre Musik einsetzen.“ Interessant ist auch, dass der 1919 gestorbene Freund und Mäzen, Axel Carpelan, schon 1901 vorgeschlagen hatte: Herr S., sollten Sie nicht irgendwann mal Ihr Interesse auf die Dramen von Shakespeare richten… Der Sturm würde gerade Ihnen gut passen: Prospero (Zauberer), Miranda, Geister der Erde und Luft usw.“ Ebenso wie Sibelius die von Carpelan empfohlene „Waldsymphonie" in seinem Tapiola verwirklichte, mag auch das Thema des Schauspiels Der Sturm (Myrsky) ihn schon lange beschäftigt haben und er hatte keine Schwierigkeiten sich mit dem Schicksal Prosperos, des alternden Künstlers, zu identifizieren. Die Partitur des neuen Bühnenmusikwerkes entstand überraschend schnell, im Herbst 1925, teilweise vielleicht Anfang des folgenden Jahres. Die über eine Stunde dauernde Bühnenmusik ist für Singstimmen, gemischten Chor, Harmonium und großes Orchester komponiert. Die Musik umfasst insgesamt 36 Nummern. Die Uraufführung war am 15. März 1926 in Kopenhagen und insbesondere die Musik des Schauspiels war ein Erfolg und sie wurde für gelungen gehalten: ,Shakespeare und Sibelius, diese zwei Genies, haben einander gefunden‘.“
Die Bühnenmusik wurde seit der dänischen Uraufführung nur mehr sehr selten aufgeführt, man beschränkt sich heute meist auf die Orchestersuite, die Jean Sibelius daraus selbst zusammengestellt hatte. Soweit ich das überblicke, wurde die Bühnenmusik von Sibelius in den letzten Jahrzehnten im deutschen Sprachraum nur zweimal aufgeführt: Im Jahr 2009 gab es in Freiburg ein Bühnenspektakel und dann gab es 2016 in der Tonhalle Düsseldorf erstmals jene Fassung, die nun auch in Graz zu erleben war. Die italienische, seit Jahren in München wirkende Dramaturgin Laura Olivi hatte die 36 Musikstücke der Bühenmusik von Sibelius mit Textausschnitten von Shakespeares Sturm (in der Übersetzung des im Vorjahr verstorbenen Frank Günther – er hatte alle Shakespeare-Werke in den Siebziger-Jahren neu übersetzt) sehr effektvoll und aufführungstauglich verwoben. Ich vermute, man hatte aus den Erfahrungen der Erstaufführung in Düsseldorf, die zwiespältig aufgenommen worden war und wo das Konzertante im Vordergrund stand, gelernt, und man hatte Laura Olivi nach Graz eingeladen, diesmal die szenische Einrichtung zu übernehmen und theatralische Akzente zu setzen. Sie stellte sehr geschickt die drei brillanten Schauspielpersönlichkeiten in den Mittelpunkt des Abends.
Mit wenigen markanten Kostümteilen und Requisiten entstand auf der großen Bühne des Grazer Opernhauses, an die noch der überdeckte Orchesterraum anschloss, von Beginn an eine märchenhaft-skurrile Bühnenatmosphäre. Eine Reihe der Orchester- und Chormitglieder war mit großen Federn oder Fähnchen dekoriert und der Dirigent trug bei der stürmischen Meeresouvertüre eine Seemannskappe. Im Meerssturm wankte die großartige Anne Bennent mit einem Segel auf dem Rücken durch die Zuschauerreihen auf die Bühne. Man man war sofort in Bann gezogen. All diese Effekte wurden durchaus mit subtilem Feingefühl eingesetzt und sorgten dafür, dass man sich als Publikum tatsächlich auf die einsame Insel des Zauberers Prospero versetzt fühlte. Wunderbar, wie sich zum Beispiel Markus Meyer durch Wechsel der Kopfbedeckung vom Prospero zum feindlichen König Alonso oder Sebastian Wendelin durch Überziehen einer Maske vom Königssohn Ferdinand in das Ungetüm Caliban verwandelten. Überaus eindrucksvoll ist die außergewöhnliche Wandlungsfähigkeit von Anne Bennent, die gleich sechs verschiedene Rollen zu verkörpern hatte.
Ich war auch sehr erleichtert, dass diesmal keinerlei Mikrophone oder Microports eingesetzt wurden. Anne Bennent hatte mit ihrer an sich zarten und ungeheuer modulationsreichen Stimme keinerlei Problem sich im großen Raum akustisch durchzusetzen. Durch das Fehlen der elektronischen Verstärkung war der Kontakt der Bühnenfiguren mit dem Publikum ganz unmittelbar und stark. Die Gesangssolisten traten für ihre jeweils nur kurzen Gesangsnummern in Abendkleidung vor das Orchester und schufen damit einen erfrischenden, geradezu romantisch-ironisierenden Kontrast zu den drei Bühnenfiguren. So enstand – sicher sehr im Sinne von Jean Sibelius! – „eine interaktive Schlüssigkeit von Sprache, Musik und Gesang“, die ein Kritiker in Düsseldorf vor fünf Jahren vermisst hatte.
Für mich stand zwar die schauspielerische Brillanz im Vordergrund, das bedeutet aber nicht, dass nicht auch musikalisch sehr Schönes und Erfreuliches geleistet wurde. Unter den insgesamt 36 Nummern des Werks sind nur 8 Nummern für Solostimmen.Die dankbarste Partie ist dem Mezzosopran zugeordnet, der fünf Lieder des Ariel zu singen hat. Mareike Jankowski tat dies mit warmer und höhensicherer Stimme. Bei den Männerstimmen dominiert der Bariton Markus Butter, der souverän sein Trinklied präsentiert und sich mit den Tenören Albert Memeti und Martin Fournier zum prägnanten, fast Commedia-dell’arte-ähnlichen Kanon der Saufbrüder verbindet. Sie alle singen ihren Part auswendig in der sicher nicht leicht zu artikulierenden dänischen Sprache des Originals. Die sehr kurze, aber effektvolle Arie der Göttin Juno singt Tetiana Miyus mit opernhafter Pose. Der stark besetzte Opernchor wird nur in den ersten zwei Akten beschäftigt und singt seine hauptsächlich aus Vokalisen bestehenden Phrasen klangschön und mit der gewohnten Sicherheit. Roland Kuttig begleitet das Geschehen mit den Grazer Philharmonikern stets präzis-aufmerksam und ist auch mit den Schauspielern in einem einfühlsamen Kontakt. Das groß besetzte Orchester spielt merklich konzentriert und steuert sehr schöne Soli bei – etwa bei Flöte und Harfe. Für mich fügt sich das bunte Stilgemisch in der Musik von Sibelius zur idealen Begleit-, ja manchmal Filmmusik. Ich kann nur wiederholen, dass an diesem Abend die ideale Balance zwischen Musik und Sprache gefunden wurde. Das Publikum spendete viel Beifall – ich bin sicher, Jean Sibelius mit seinem bekannten Hang zur Synästhesie wäre über diesen Abend sehr erfreut gewesen! Die Produktion wird nur noch einmal am 24. Juni aufgeführt. Allen, die meinen, Sibelius sei nur schwermütig-nordisch und langatmig, ist der Besuch sehr zu empfehlen!
Hermann Becke, 12. 6. 2021
Fotos: Oper Graz, © Oliver Wolf