Opéra de Paris / Opéra Bastille – 21.5.2014
BENJAMIN MILLEPIED
Einstand mit großem Aufwand des neuen Ballettdirektors Benjamin Millepied
Das Ballett der Pariser Oper kann sich mit Recht rühmen, die älteste Tanzkompanie Europas und die Wiege des klassischen Tanzes zu sein, denn sie wurde durch Ludwig den XIV. 1669 gegründet, der in seiner Jugend selbst ein begnadeter Tänzer war. Mit 14 tanzte der junge König die Rolle der „Sonne“ und ward nicht müde, seine Tänzer, wie er wo er nur konnte, tatkräftig zu unterstützen. Von Paris reisten die Choreographen Jean-Georges Noverre zu Gluck und Calzabigi nach Wien, August Bournonville nach Dänemark, Marius Petipa nach Sankt Petersburg und etablierten die Regeln des klassischen Tanzes in Europa. Das Pariser Ballett hat Jahrhunderte lang unter Bedingungen gearbeitet, von denen andere Kompanien nur träumen konnten. So wurde das Palais Garnier gerade wegen der Tanz-Probenräume 1875 das größte Opernhaus der Welt. Tänzer hatten eine gesellschaftliche und künstlerische Position, die sogar die größten Sänger in ihren Schatten stellte. Die fünf Solo-Tänzer in Wagners „Tannhäuser“ 1861 standen (fast) genau so groß auf dem Programmzettel wie die sechs Gesangs-Solisten – dabei traten die Tänzer doch nur wenige Minuten in dem Bacchanal auf. Auch noch heute wird den Ereignissen des Balletts in den französischen Medien allgemein mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als was auf der Opernbühne passiert. Als Rudolf Nurejew und Maurice Béjart sich wegen der Ernennung eines neuen Solo-Tänzers (eine „Etoile“, ein „Stern“) stritten, wurde dies lang und ausführlich in den Fernsehnachrichten besprochen. Es ist also hauptsächlich aus Platz- und Zeit-gründen, dass der Merker so wenig über das Pariser Opern-Ballett berichtet. Doch dieses Jahr steht ein großer Generationswechsel bevor. Das Ballett wurde im XX. Jahrhundert hauptsächlich durch klassische Choreographen geleitet, wie Serge Lifar (von 1930 bis 1958) und Rudolf Nurejew (offiziell 1983-1989). Nurejews Ballette (das letzte wenige Monate vor seinem Tod 1993) stehen bis heute weiter auf dem Spielplan und seine Nachfolgerin Brigitte Lefèvre hat die klassische Tradition ganz wunderbar gepflegt. Die Kompanie ist mit 154 festen Tänzern in Höchstform und dank der eigenen Ballettschule mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren eine der jüngsten Tanzkompanien der Welt. Brigitte Lefèvre, eine ehemalige Tänzerin und talentierte Organisatorin – sie hat während der großen Krisen von 1989-1994 zeitweilig das ganze Haus geleitet – hat die Kompanie auch dem modernen Tanz geöffnet. So wurden namhaften Choreographen eingeladen wie Pina Bausch, Maurice Béjart, Carolyn Carlson, Merce Cunningham, Nacho Duato, Mats Ek, William Forsythe, Jiri Kylian und John Neumeier. Die Pariser Oper ist das einzige Haus in der Welt, dem Pina Bausch ein Stück „geschenkt“ hat (sonst dürfen ihre Werke ja nur durch ihr eigenes „Tanztheater Wuppertal“ aufgeführt werden).
Nach 21 Jahren erfolgreicher Arbeit geht Frau Lefèvre diesen Herbst in den Ruhestand. Für ihre Nachfolge wurde einer der Solotänzer vorgesehen, der das Haus seit Kindesbeinen kennt und von ihr in die finanziellen Kniffe eingeweiht wurde. Denn das immer ausverkaufte Ballett finanziert de facto die anderen Sparten. Doch nun kommt alles anders als geplant. Denn der neue Intendant ab diesem Herbst, Stéphane Lissner, entschied sich für einen ganz anderen Kandidaten, den jungen Choreographen Benjamin Millepied. Millepied, 1977 in Bordeaux geboren, in Senegal und Lyon aufgewachsen, tanzte zwölf Jahre am New York City Ballet, das man in seiner choreographischen Handschrift wiedererkennt. Er ist in vieler Hinsicht amerikanisch geprägt, gründete 2010 eine eigene Tanzkompanie, „LA Dance Project“, und heiratete die Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman, die er auf den Dreharbeiten des Films „Black Swan“ kennen lernte (wo er den Prinz tanzte). Für seinen Einstand organisierte Frau Lefèvre einen glänzenden Ballett-Abend: erst „Le Palais de Cristal“ von George Balanchine und dann „Daphnis et Chloé“ von Ravel, mit einer neuen Choreographie von Benjamin Millepied. Beide Produktionen wurden besonders gut versorgt, denn der Musikdirektor Philippe Jordan dirigierte höchstpersönlich ein Ballett. Leider ist das nicht immer der Fall und werden die Ballettabende – wie an anderen Häusern – oft durch B-Orchester begleitet. Und sogar in „Orpheus und Euridyke“ von Pina Bausch (am gleichen Abend in der Garnier-Oper gespielt) kann man sich über die nicht hervorragende Sängerbesetzung wundern. Jetzt war musikalisch alles auf höchstem Niveau. Auch optisch. George Balanchine – kurz nach dem Weltkrieg Interim-Direktor des Balletts – hat „Le Palais de Cristal“ 1947 für die Pariser Oper entworfen (mit einer Musik von Georges Bizet). Die ursprünglichen Kostüme waren von der Surrealistin Leonor Fini (1908-1996), doch für diese Wiederaufnahme wurde der Modeschöpfer und hochbegabte Kostümbildner Christian Lacroix (1951) gebeten, neue Kostüme zu entwerfen. Das neo-klassische Ballett wurde angeführt durch die technisch besten Tänzer des Hauses. Mathieu Ganio wurden seine „plastique“ und seine atemberaubende „facilité“ in die Wiege gelegt, denn seine beiden Eltern waren große Tänzer. Amandine Albisson ist der neuste „Stern“ der Kompanie – sie wurde am 5. März 2014 zur „Etoile“ ernannt – und zeigte sich dieser hohen Auszeichnung vollkommen würdig. „Ein charmantes Bonbon“, wie es die Neue Zürcher Zeitung formulierte – die „Hauptspeise“ war der zweite Teil des Abends.
„Daphnis et Chloé“ war ein Kompositionsauftrag von Serge Diaghilev an für seine „Ballets Russes“ und wurde am 8. Juni 1912 in Paris uraufgeführt, mit Vaslav Nijinski und Tamara Karsavina in den Hauptrollen. Die Geschichte des Hirtenknaben Daphnis, der sich in die Nymphe Chloé verliebt, stammt aus dem Griechischen Altertum, das viele Choreographen der Belle Epoque fasziniert hat. Allen voran Isadora Duncan, die auf elegische Art versuchte die griechischen Tänze zu rekonstruieren. Doch zwei Wochen vor der Uraufführung von „Daphnis et Chloé“ sorgte Vaslav Nijinski mit seinem sinnlichen Ballett „L’Après-midi d’un faune“ für einen solchen Skandal, der „Daphnis et Chloé“ mit seiner vergleichsweise „unschuldigen“ Choreographie von Michel Fokine total in den Schatten stellte. „Daphnis“ wurde 1921 durch Fokine in das Repertoire der Pariser Oper aufgenommen und bekam 1959 eine neue Ausstattung von Marc Chagall, als dieser die Deckengemälde des Palais Garnier neu gestalten durfte. Jetzt bekam Daniel Buren den ehrenvollen Auftrag das Ballett neu einzukleiden. Buren (1938) ist heute ungefähr was Chagall vor fünfzig Jahren war: der angesehene, offizielle, zeitgenössische Künstler, der Frankreich in In- und Ausland repräsentiert. Sein erster Auftrag für die Pariser Oper war ein „Coup“, der für ein großes Interesse der Medien sorgte. Das Resultat war außerordentlich fotogen: aus dem Bühnenhimmel fuhren verschiedene geometrische Formen in changierenden Farben nach unten, die den Tänzern allen erdenklichen Raum ließen. Alles schön und gut, aber einen Bezug zum Bühnengeschehen, zur Geschichte oder zur Musik haben wir nicht erkennen können. Ähnliches gilt auch für die Choreographie von Benjamin Millepied: sauber und gekonnt, irgendwo zwischen seinen Lehrmeistern Balanchine und Robbins, aber ohne eine persönliche Handschrift. In einem Interview vor der Première meinte Millepied, er wolle nicht die Geschichte nacherzählen, um nicht „in die Pantomime zu verfallen“. So verdoppelte er das Paar Daphnis und Chloé mit einem anderen, Dorcon und Lycénion, die alle vier durch einen bösen Pan, Bryaxis, verwirrt wurden. Die Pärchen (und alle Guten) trugen einfache weiße Kostüme von Holly Hynes, Pan (und alle Bösen) hatten dagegen schwarze Kostüme. Doch zu einem Dialog zwischen Gut und Böse kam es nicht, alles blieb offen und irgendwie leer. Die einflussreiche Tageszeitung „Le Monde“ urteilte mild: „un très joli divertissement“ („ein angenehmer Zeitvertreib“).
Zum Glück bekam Millepied die besten Tänzer der Kompanie, die – wie er es selbst gestand – seine Ansätze „wunderbar weiter entwickelten“ und, soweit möglich, ein Rollenprofil entwickelten. Hervé Moreau ist ein Ausnahmetänzer. Wer ihn ein Mal in Neumeiers „Dritten Symphonie“ (von Mahler) gesehen hat, wird ihn nie mehr vergessen. Er hat eine eigene Aura, eine eigene Melancholie, die er in alle seine Rollen mitnimmt. Er war als Daphnis das Zentrum des Abends. Aurélie Dupond hatte es als Chloé nicht leicht, da sie offenbar mehr die Vision einer jungen Nymphe darstellen sollte als die reale Frau die sie ist. Seit dem „Abschied“ (offizielle Pensionierung) von Agnès Letestu im Oktober 2013 ist sie die inoffizielle „Prima Ballerina“ der Kompanie und ihr wollte Millepied diese Rolle widmen, bevor sie nächstes Jahr leider auch gehen muss (mit 40/42 Jahren erlischt schon ein Stern am Pariser Balletthimmel). François Alu konnte als „Böser Pan“ Bryaxis eine große Energie entwickeln und viele Karten ausspielen. Mit dem anderen „premier danseur“ Alessio Carbone bekam er den größten Applaus nach den beiden Titelrollen und die Zeit rückt immer näher dass er auch eines Tages ein „Etoile“ sein wird.
Über die Leistung von Philippe Jordan und dem Chor und Orchester der Pariser Oper können wir leider nichts Genaueres berichten, denn konzentriertes Zuhören war an diesem Abend nicht möglich. Mindestens vier Minister saßen mit Gefolge im Parkett und haben den ganzen Abend auf ihren Handys Mails verschickt und mit ihren Nachbarn geredet, als ob sie im Büro oder zu Hause vor dem Fernseher säßen. Doch am 18. und 19. Juni tritt das Orchester zum ersten Mal in seiner langen Geschichte im Wiener Musikverein auf und wird Philippe Jordan die 1. Symphonie von Bizet und „Daphnis et Chloé“ von Ravel noch einmal dirigieren. Und in Wien wird man die Musik richtig hören können – und die Nymphen vor seinem geistigen Auge tanzen sehen.
Waldemar Kamer (Paris) 22.5.2015
Bilder (c) Agathe Poupeney / Opera de Paris
Wiederaufnahme als Konzert im Wiener Musikverein : www.musikverein.at