Lüttich: „Lucia di Lammermoor“

Premiere: 19.11.2021, besuchte Vorstellung: 24.11.2021

Der Tradition verpflichtet

Lieber Opernfreund-Freund,

Donizettis Dauerbrenner Lucia die Lammermoor ist derzeit an der Opéra Royal de Wallonie-Liège in Lüttich zu erleben und dabei in gleich mehrerlei Hinsicht der Tradition verpflichtet. Zum einen besticht die Produktion aus dem Jahr 2015 durch ihre traditionelle Lesart, die Stefano Mazzonis di Pralafera so schätzte, zum zweiten ehrt das Haus den Anfang des Jahres verstorbenen Intendanten durch diese Wiederaufnahme. Zugleich kann sich in bester Primadonnentradition eine Sopranistin, in diesem Fall Zuzana Marková, durch ihre exzeptionelle Darbietung profilieren und den Abend komplett zu dem ihren machen.

Stefano Mazzonis di Pralaferas Inszenierungen haben nicht selten den Eindruck erweckt, als fänden sie in den Originalkulissen und -kostümen der Uraufführung der jeweiligen Werke statt. Und doch gelang es dem Italiener immer wieder zu beweisen, dass Oper ohne Regietheateransätze alles andere als langweilig sein muss. So verhält es sich auch bei dieser Lucia, die er trotz einiger inszenatorischer Längen im zweiten Akt immer wieder voller Esprit erzählt. Den traditionellen Kostümen verleiht Fernand Ruiz durch moderne Akzente beinahe Aktualität, die wandlungsfähigen Türme, die Jean-Guy Lecat auf die Bühne des Lütticher Opernhauses gestellt hat, genügen als illustrierende Kulisse. Gianni Santucci hat die Inszenierung ganz im Geiste des verstorbenen ehemaligen Hauschefs neu einstudiert und so der Musik Raum gelassen zu wirken, die Seelennöte der Titelheldin akustisch zu bebildern und die Grundlage für ein Belcantofest zu legen.

Leider zieht Renato Balsadonna im Graben nicht am selben Strang. Routiniert führt er durch die Partitur – und genau das ist das Problem. Die mehr oder weniger heruntergespielte Interpretation steht im krassen Gegensatz zu dem, was das Sängerpersonal leistet und bleibt hinter den Möglichkeiten zurück, die die dezente Bebilderung auf der Bühne der Musik ließe. Da werden der musikalischen Präzision, die einem Metronom gleicht, Leidenschaft und Emotionen geopfert, die doch so zahlreich in der Partitur stecken. Was bleibt ist schöne und doch irgendwie seelenlose Musik. Das ist umso bedauernswerter, da allen voran Zuzana Marková eine äußerst lebendige, in Ansätzen immer wieder neue Interpretation der Titelfigur zum Besten gibt.

Die gebürtige Tschechin lässt ihre zahlreichen Spitzentöne wie aus dem nichts auftauchen und begeistert mich mit atemberaubenden Koloraturen und sanften Piani. Darüber hinaus besticht sie, und das macht ihre Darbietung so besonders, durch leidenschaftliches, wahrhaft zu Herzen gehendes Spiel. In der großen Wahnsinnsszene (auf der Glasharmonika meisterhaft von Sascha Reckert begleitet), in der man so manche ihrer Kolleginnen die Höchstschwierigkeiten statisch wie auf einem Arienabend präsentieren sieht, spielt sie den Wahn ebenso gut, wie sie ihn in den wahnhaften Koloraturen singt. Brava! Ihr zur Seite steht der französische Tenor Julien Behr , der seinem klangschönen Tenor eine ordentliche Portion Italianitá beimischt und flammende Höhen präsentiert. Seiner leidenschaftlichen Interpretation des Edgardo steht auch Lionel Lhote als Enrico in nichts nach. Furios und glutvoll präsentiert er den machtbesessenen Bruder von Lucia und zeigt die gewaltige Durchschlagskraft seines farbenreichen Baritons. Stimmlich und darstellerisch das komplette Gegenteil ist gestern Abend leider der Raimondo von

Luca dall’Amico. Hölzern und uninspiriert wirkt der Italiener über weite Strecken, lässt sich offensichtlich von seinem italienischen Chef im Graben anstecken, bleibt allzu nüchtern und ist so nicht der verständnisvolle, herzensgute Raimondo, den man sich wünschen würde.

Lust auf mehr macht hingegen Oreste Cosimo, der in seinem kurzen Auftritt als Arturo einen feinen Tenor voller Strahlkraft hören lässt. Die Damen und Herren des Chores singen coronabedingt mit Maske, das tut aber ihrem leidenschaftlichen Einsatz keinen Abbruch und so haben sie unter der Leitung von Denis Segond merklichen Anteil am Gelingen des gestrigen Abends. Maskiert bleibt auch das Publikum, dessen Impfstatus am Eingang kontrolliert wurde. Aus deutscher Sicht ist ein voll besetzter Zuschauerraum heutzutage schon etwas recht Ungewohntes, doch so entlädt sich die Begeisterung am Ende der Vorstellung natürlich mit voller Wucht; die bei aller Tradition kurzweilige Inszenierung wird ausdauernd bejubelt, mit zahlreichen „Bravi!“ für Zuzana Marková, Julien Behr und Lionel Lhote.

Ihr
Jochen Rüth

25.11.2021

Die Fotos stammen von Jonathan Berger.