Giampaolo Bisanti dirigiert mit Können zum Einstand als neuer Musikdirektor Verdis am wenigsten gespielte Oper – weil sie dem Komponisten Bauchweh bereitete…
Die Opéra Royal de Wallonie-Liège hat ein betont italienisches Profil und gilt deswegen seit vielen Jahren als „nördlichste Oper Italiens“. Dies war schon so zu Zeiten des früheren Direktors Jean-Louis Grinda, der sich 2007 mit einem „Ring“ verabschiedete, bevor er nach Monaco wechselte. Es wurde noch ausgeprägter unter der Leitung von Stefano Mazzonis di Pralafera, der 2020 als letzte Amtshandlung Speranza Scapucci als Musikdirektorin ernannte. Doch da die Senkrechtstarterin so viele internationale Angebote bekommt, wollte sie diesen Vertrag lösen und hat der neue Direktor Stefano Pace nun den temperamentvollen Giampaolo Bisanti als Musikdirektor einberufen – den man in Wien gut kennt, da er an der Staatsoper u. A. noch letzten Monat „Macbeth“ dirigiert hat. Und zu Bisantis Einstand gibt es eine absolute Rarität: Verdis kürzeste (nur 90 Minuten Musik!) und am wenigsten gespielte Oper „Alzira“ (1845), die in vielen Opernführern gar nicht mal erwähnt wird. Die erste Aufführung in Deutschland war erst 1998 (in Passau) und ich kannte das Werk nur als Platte: anscheinend 1938 zum ersten Mal in Berlin für Verdis Geburtstag aufgenommen mit Elisabeth Schwarzkopf als Alzira (auf Deutsch!), bevor u.A. 1983 eine Aufnahme in München folgte mit Elena Cotrubas und Francisco Araiza. In Italien wird „Alzira“ so gut wie gar nicht gespielt und aufgenommen, was an dem vernichtenden Urteil liegt, dass der Komponist selbst über seine Jugendsünde gegeben hat: „è brutta“… (sie ist hässlich). Und er bekäme „Bauchweh“ wenn er an sie denke…
„Alzira“ entstand während der berüchtigten „Galeeren-Jahre“ (14 Opern in 10 Jahren) und auch wenn es ein sehr wichtiger Auftrag des damals hochangesehenen San Carlo in Neapel war, fehlte es Verdi einfach an Zeit und soll die Komposition weniger als einen Monat gedauert haben. Ein Monat war für Rossini mehr als ausreichend – für Verdi eben nicht. Und mit dem anscheinend auch sehr schnell geschriebenen Libretto von Salvadore Cammarano konnte er auch nicht viel anfangen. Die Vorlage „Alzire ou les Américains“ (1736) von Voltaire, ist ein schlechtes Theaterstück, was in einem imaginären Inca-Reich in (Süd)Amerika spielt – nicht zu verwechseln mit der interessanten „Zaïre“ (1732), die in Jerusalem spielt und die 1780 durch Mozart („Zaide“) und 1829 durch Bellini („Zaira“) vertont wurde. Die Handlung ließe sich zusammenfassen als eine opernübliche Dreiecksgeschichte: die unschuldige peruanische Prinzessin Alzira liebt den mutigen Inkahäuptling Zamoro, der durch den bösen spanischen Gouverneur gefangen und zu Tode verurteilt wurde. Doch wenn sie den Gouverneurssohn Gusmano heiratet, soll ihr eingekerkerter Geliebter begnadigt werden. Aber dieser entflieht und sticht seinen Rivalen während der Hochzeitszeremonie en public nieder -womit die Oper mit einem langen Trio & Schlusschor endet.
Das kann man natürlich auf alle möglichen Arten interpretieren. Die Inszenierung ging 2018 in Lima in Premiere und wurde dort fürs peruanische Fernsehen aufgenommen (man kann diese auf Youtube/Cultura 24TV besehen). Der Regisseur Jean Pierre Gamarra machte aus der exotischen Liebesgeschichte ein Drama über die Kolonisierung Amerikas, einen Kampf der Kulturen und vor allem etwas über die Anerkennung, um die die peruanischen Ureinwohner anscheinend noch bis heute kämpfen. Mit dem überkuppelnden Thema „Erde“, die der Bühnen- und Kostümbildner Lorenzo Albani in einem großen Kübel auf die Bühne holt, umgeben durch Kettenvorhänge, die wohl „Unterdrückung“ symbolisieren sollen. Dazu alte Kostüme aus dem Fundus. Dabei bleibt es, denn es gibt so gut wie keine Personenführung, außer dass quasi jede Szene damit anfängt, dass jemand singt mit einem Messer an der Kehle oder einer Pistole an der Schläfe. Von „szenischer Spannung“ oder „psychologischen Vertiefung“ scheint man noch nie gehört zu haben und die Rampentheater-Inszenierung wirkte recht „provinziell“.
Die musikalische Umsetzung war aber alles außer provinziell und die beiden Hauptdarsteller von internationalem Niveau. Francesca Dotto singt eine wunderbare Auftrittsarie von Alzira (die etwas an die Lucia von Donizetti erinnert), aber ab dann steht sie musikalisch seltsamerweise nicht im Mittelpunkt. Gleich nach seinem Auftritt übernimmt Zamoro das Ruder, mit so viel Spinto-Tenor-Wucht, dass Manrico im „Trovatore“ (ein paar Jahre später mit demselben Librettisten) wie eine kleine nette Nebenrolle wirkt. Man könnte – wie für andere frühen Verdis oder Wagners – diese Tenor-Rolle als „quasi unsingbar bezeichnen“: dauernd laut und hoch. Doch für den beeindruckenden Luciano Ganci ist das kein Problem und er schleudert dem Publikum seine zahlreichen Spitzentöne effektvoll im Dauerforte entgegen. Dagegen verblasste Giovanni Meoni als Gusmano total. Nur in seiner bildschönen Schlussarie (die schon die von Simon Boccanegra in 1857 ankündigt), wo der Sterbende Bariton seinem Mörder verzeiht und die beiden Liebenden in einem Trio vereint, kam seine Stimme zum Tragen. Ataliba und Alvaro, die widerstreitenden Väter von Alzira und Gusmano hatten mit Roger Joakim und Luca Dall’Amico eindrucksvolle Bassstimmen, die durch den agilen Tenor von Zeno Popescu als Otumbo aufgelockert wurden. „Auflockern“ ist vielleicht das größte Kompliment, dass wir dem Dirigenten machen können. Denn musikalisch holt Giampaolo Bisanti mit Kenntnis der anderen Werke mehr aus Verdis kurzer Oper heraus, als was in den Noten steht. Denn „Alzira“ ist noch eine Nummernoper der „Galeeren-Jahre“, man hört noch viele Anklänge an Donizetti und Bellini (z.B. an „Lucia di Lammermoor“ (1835) und „La Sonnambula“ (1830)) und schon kleine Vorausblicke auf „Trovatore“ (Manrico, 1853) und im großen Kriegschor „Dio della guerra“ sogar schon an „Aida“ (die erst 1871 folgen würde). Doch die Einheit und Stringenz des späteren Verdi ist noch nicht da und schon die Ouvertüre hört sich an wie ein paar zusammengeklebte Versatzstücke. Auch der Rest kommt musikalisch nie wirklich in Fluss und die Figuren & Affekte bleiben immer schwarz-weiß. Die Nuancen fehlen, doch die bringt der Dirigent nun in die Partitur, indem er zum Beispiel in der Ouvertüre dem Klarinetten-Solo einen ähnlichen Platz gibt wie bei der „Luisa Miller“ (ein paar Jahre später mit demselben Librettisten). Bisanti überrascht immer wieder mit zahlreichen Dynamik- und Tempiwechseln und lässt die Tenor-Arien zu Glanzmomenten aufblühen. Das Orchester der Oper und der durch Denis Segond betreute Chor folgen begeistert ihrem neuen Chef auf jeden kleinen Wink.
Ende Januar wird Giampaolo Bisanti eine neue „Sonnambula“ dirigieren (mit Jessica Pratt), wonach im Mai ein weiterer wenig-gespielter Jugend-Verdi folgen wird, „I Lombardi alla Prima Crocciata“ (1843). Doch erst mal gibt es die wunderschöne „Vie Parisienne“ von Offenbach in der Inszenierung von Christian Lacroix aus Rouen und den „Hamlet“ von Ambroise Thomas aus der Opéra Comique – über die wir beide schon berichtet haben. Denn der neue Intendant Stefano Pace hat viele gute Kontakte in Frankreich und möchte das Opernhaus nun auch für ein „neues Repertoire“ öffnen – eben nicht nur das italienische.
Waldemar Kamer 06.12.2022
„Alzira“ Giuseppe Verdi
Beuchte Premiere: 03.12.2022
Inszenierung: Jean Pierre Gamarra
Musikalische Leitung: Giampaolo Bisanti
Orchestre ORWL
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