Der umtriebige Ingolf Huhn inszeniert ein Konzept von Barbe & Doucet.
Der Ägyptologe Auguste Ferdinand Franҫois Mariette (1821-1881) war vom Pariser Louvre im Jahre 1850 nach Ägypten geschickt worden, um koptische, syrische und äthiopische Manuskripte aufzukaufen. Die Pausen der zähen bis 1854 reichenden Verhandlungen nutzte Mariette zur Erkundung historischer Stätten und entdeckte dabei unter anderem die zum ägyptischen Begräbnis-Kult gehörenden unterirdischen Begräbnisstätten der heiligen Apsis-Stiere. Ohne behördliche Genehmigung und mit für heutige Auffassungen unmöglichen Methoden begann er zu graben, setzte dabei selbst Sprengmittel ein, um an die Altertümer zu gelangen. Auch verbrachte er etwa 7000 Fundstücke ohne Genehmigung nach Frankreich.
Nachdem Mariette 1857 wieder zu robusten Grabungen nach Ägypten gekommen war, wurde er im Folgejahr vom osmanischen Vizekönig Ägyptens Said Pa scha zum „Director Service des Antiquités de l´Egypte“, Direktor des Altertümer Dienstes ernannt, erhielt damit die Oberleitung aller von der Regierung initiierten Grabungen.
Die Anregungen aus der Beschäftigung mit den Funden des „Alten Ägyptens“ verarbeitete Mariette in der Erzählung „La fiancée du Nil“, frei: die Verlobte vom Nil.
Als der europäisch, sprich Französisch erzogene Khedive für sein Kairoer Opernhaus unbedingt eine Repräsentations- und Prunk-Oper Guiseppe Verdis in Auftrag geben wollte, die Macht und Bedeutung verherrlichte, witterte Auguste Mariette eine Chance. Er ließ die Erzählung als Entwurf eines Opernszenars drucken und schickte ein Exemplar an den Librettisten des „Don Carlo“ und inzwischen Manager der Pariser Opéra-Comique Camille du Locle (1832-1903), der Verdi (1813-1901) für die Handlungs-Skizze interessierte. Bekanntermaßen diente Mariettes Szenarium dem Librettisten Antonio Ghislanzoni (1824-1893) für die intensive Zusammenarbeit mit Guiseppe Verdi für die Komplettierung der Oper.
Mariette war1870 zur Vorbereitung der Kairoer Uraufführung besonders für die Gestaltung der Kostüme nach Paris gekommen.
Hier setzt die Inszenierung der Oper „Aida“ von Ingolf Huhn, dem Opernarchäologen aus dem Erzgebirge, nach einem Konzept des kanadischen Inszenierungs-Duos „Barbe & Doucet“ ein.
Auguste Mariette, in Gestalt Rolf Germeroth s, gerät in der französischen Hauptstadt in das Chaos des Deutsch-Französischen Krieges. Nach der Niederlage der Französischen Armee in der Schlacht von Sedan am 1. September 1870 wurde Paris von Truppen Preußens und seiner Verbündeten in der Zeit vom 19. September 1870 bis zum 28. Januar 1871 eingeschlossen und belagert.
Eigentlich wollte Mariette mit der Operntruppe nach Kairo zur Uraufführung der „Aida“ reisen und sollte die Kostüme, Requisiten und Bühnenaufbauten in das „Khedivial-Opernhaus“ begleiten. So aber strandete er mit den Sängerinnen und Sängern, mit Menschen die in seinem Hause Zuflucht gesucht hatten sowie bei den Hausbewohnern.
Irgendwie muss sich jeder der bunten Gesellschaft beschäftigen und vom Kriegsgeschehen ablenken. Als das zunehmend zu Spannungen in der bunten Gesellschaft führt, beginnt die Operntruppe, obwohl bereits in Reisekleidung, ihnen den ersten Aufzug der „Aida“ zu improvisieren.
Das beruhigt die Situation, zumal sich die gesamte Gesellschaft für die Chorszenen engagiert. An den passenden Stellen kommen auch noch verwundete Kämpfer oder kontrollierende Soldaten auf die Szene.
Selbst für die Schwertweihe des Radamès finden sich aus den Anwesenden vier Tänzerinnen.
Für den zweiten Aufzug hatten die Hilfesuchenden das Haus des Mariette Bey verlassen, so dass Platz für ein publikumswirksames Zwischenspiel der Solo-Tänzerin Megum Aoyama mit zwei Kindern der Opernballettschule und dem Zickenkrieg zwischen der Amneris und Aida blieb.
In der Folge löste die Inszenierung den Hergang zunehmend vom Opernszenarium, indem der Hausherr eine Bürgergruppe ins Haus bat, um mit ihnen eine Huldigung für wen auch immer zu organisieren.
Mit der Persiflizierung der Triumphszene führte Ingolf Huhn seine Inszenierung dann geradewegs trotz Einsatz von Tänzern und breiter Chorszene in das Kammermusikalische.
Folgerichtig gab es mit der kompletten Loslösung von der Adaption der Handlung des dritten Aufzuges einen Abstecher in den Innenhof der Kairoer Residenz Mariottes für einen nahezu klassischen intimen Nil-Akt.
Fast zeitlich und örtlich neutralisiert, fast konzertant, bot sich der vierte Akt. Bei der Schlussszene nach der „Steinschließung“ agierten Aida und Radamès vor einem rotfarbig angestrahlten Gazevorhang. Zunehmend Sicht-durchlässig erlaubte er Amneris Schlussarie und den Blick auf eine geisterhafte Personalie in der Dekoration.
Für die Regie hatte diese Deutung des „Aida-Stoffes“ vor allem die Aufgabe, aus den Überfiguren des Librettos Menschen aus Fleisch und Blut im bürgerlichen Umfeld zu gestalten. Als Glücksgriff erwies sich, dass Huhn die Hauptpersonen in ihrer Reisekleidung aus dem Pariser Auftritt bis zum Schluss als eine Klammer um die Inszenierung sicherte. Das gefährdete weder ein gelegentlicher Kopfputz der Amneris noch eine Schärpe für Radamès und Amonasro.
Letztlich zeigt die Regie eindrucksvoll, warum Aida als Konglomerat von ideologischer Zustimmung und sozialer Anklage noch immer faszinierende Aktualität besitzt.
Im Graben gelangen dem Generalmusikdirektor Guillermo Garcia Calvo mit der hochmotivierten Robert-Schumann-Philharmonie einige gut disponierte impressionistische Klanggemälde mit dem deutlichen Bemühen um jene Tempo- und Klangnuancen, die einer Verdi-Oper ihr Leben einhauchen. Das gesamte Spektrum zwischen einem reduzierten Pianissimo bis hin zu heftig betonten Marschtritt der Aufzugsmusiken, mit deren Trivialität Verdi das pomphafte Machtgehabe seines Auftraggebers artikulierte, wurde geboten.
Die Betonung lag aber doch auf den kammermusikalischen intimeren Szenen des Abends.
Das Orchester bildete gemeinsam mit dem von Stefan Bilz glänzend einstudiertem verstärkten Chor des Hauses die Tragsäulen der Aufführung.
Solistisch wurde im Chemnitzer Opernhaus mit großer Leidenschaft Erstaunliches geboten:
Die Sopranistin Tatiana Larina, seit 2019 Mitglied im Hausensemble, hatte sich in den langwierigen Proben auf ihre Aida-Rollendebüt, das für Oktober 2022 geplant war, vorbereiten können, wurde aber am Mittag des Premierentages mit der Einspringer-Notwendigkeit überrascht. Die vorgesehene Gastsolistin hatte sich indisponiert gemeldet.
Wie die junge Georgierin diese Herausforderungen bewältigte, war absolut bewunderungswürdig.
Fern jeder Routine hörten wir eine dunkel-schlanke zu kultivierter Expression fähige Stimme, die ohne Druck die langen Phrasen ihrer Rolle mit der schwierigsten Arie und den Duetten bewältigte. Die fast ständige Bühnenpräsenz, die Darstellung der Gefühle und des inneren Zwiespalts dürften für die Sängerin eine besondere Herausforderung gewesen sein.
Nach der Aufführung erzählte sie mir, dass für sie die Anpassung des Reisekleides der Aida auf ihre zierliche Figur der größte Vorbereitungs-Stress gewesen sei.
Auch für die Mezzo-Sopranistin Nadine Weissmann war die Amneris ein Rollendebüt, denn bisher kannten wir sie nur als Erda bzw. als Schwertleite in Wagnerpartien. Mit flexiblem Gesang wusste sie das Begehren der verliebten Königstochter, zwischen Suche nach Versöhnung, Ergebenheit und Verzweiflung überzeugend darzustellen.
Der Partie des Radamès gab der mexikanische Tenor Hector Sandoval mit viel Gefühl und Ausdruck. Obwohl bereits Rollen-erfahren, hatte er es zwischen den ordentlich aufspielenden Debütantinnen nicht einfach, sich zu behaupten. Zum Teil kraftvoll, aber auch schön und zart agierte er im Spannungsfeld zwischen den selbstbewussten Frauen.
Letztlich überzeugt Frauendynamik gegen Tenor-Testosteron.
Der Amonasro von Aris Argiris konnte mit stimmlicher Urkraft und gesanglicher Geschmeidigkeit sowie darstellerischer Präsenz statt mit der Autorität des Königs von Äthiopien dank seiner klaren Moralvorstellungen aufwarten. Mit Kaltschnäuzigkeit verfolgt er seine Ziele.
Der Oberpriester Ramfis des Haus-Bassisten Alexander Kiechle agierte durchaus raumgreifend ohne die Orchesterwogen fürchten zu müssen. Prägnant setzt er seine Ziele durch.
Björn Waag nutzte als Ägyptischer König die Möglichkeiten, seinen schönen prägnanten Bass mit Timbre und Stimmkultur zur Geltung zu bringen.
Eine leuchtend singende Oberpriesterin gab Marie Hänsel.
Konrad Furian vom Opernstudio des Hauses konnte mit den wenigen Sätzen des Boten beeindrucken.
Beeindruckend auch die Darbietungen der Mitglieder des Balletts des Hauses, der Gäste eines Koreanischen Trainee-Programms und der Opernballettschule Chemnitz.
Intensiver Beifall des überwiegend heimischen Publikums auch für das Inszenierungsteam krönte den Abend.
Damit erlebten wir einen beeindruckenden Beitrag der Oper Chemnitz, dass auch mit den Mitteln des Regietheaters ein breiteres Publikum zu erreichen ist.
Thomas Thielemann, 25.4.22
Autor der Bilder: © Nasser Hashemi