Sferisterio 1.8.21
Erfreulicherweise ist von einer Produktion zu berichten, die zwar nicht zur Pharaonenzeit spielt, aber intelligent und konsequent an den Beginn des 20. Jahrhunderts verlegt wurde. Die argentinische Regisseurin Valentina Carrasco ließ sich von Carles Berga eine faszinierende Wüstenlandschaft bauen, welche die Bühnenlänge perfekt nutzte. Hier breitete sich die britische Kolonialmacht mit ihrem türkischen Vizekönig aus. Der Hochmut der Kolonialherren gegenüber den Ägyptern und erst recht gegenüber den Äthiopiern war in jedem Moment geradezu greifbar. Zu sehen waren britische wie osmanische Uniformen (Kostüme: Silvia Aymonino). Die Kostümbildnerin und der Bühnenbildner konnten vor allem bei der Figur der Amneris ihrer Phantasie freien Lauf lassen. So spielte beispielsweise die Szene in Amneris‘ Gemächern in einem offenen, improvisierten Zelt in der Wüste, und die Tochter des Vizekönigs trug elegante, der jeweiligen Situation angepasste Kreationen. Ganz hervorragend waren auch die Balletteinlagen gelöst, denn der Tanz der kleinen Mohren verwandelte sich in das Geschubse bettelnder Kinder, zur Schwertweihe rollten Tänzerinnen über die Dünen, die in sandfarbene Schleier gehüllt waren. Großartig auch die Leistungen der Tänzer, die während der Triumphszene als Kriegsbeute eine unendlich scheinende Reihe von Ölfässern hereinbrachten, während die Äthiopier wiederholt angriffen und gnadenlos zurückgetrieben wurden, wobei es auch zu Verletzten und einem Toten kam (Choreographie: Massimiliano Volpini). Schade, dass es auf dem Besetzungszettel keinen Hinweis auf die Tänzer gab.
Mit dem Eintreffen der Kriegsbeute verwandelte sich auch das Bühnenbild, das bis zum Schluss der Oper von riesigen Ölleitungen dominiert wurde. In einem Interview im Programmheft erinnert die Regisseurin daran, dass in Ägypten der erste Ölschacht im selben Jahr der Eröffnung des Suezkanals in Betrieb ging. Ich zähle zu den (vermutlich) vielen Menschen, die das nicht gewusst haben. Damit zeigte die Regie Lösungen in logischer Konsequenz, bis hin vom Tod der beiden Liebenden in einer Kammer der Fabrikanlage, aus der mit Hilfe eines großen Schwungrads die Luft abgepumpt wurde. Die brillante Lichtregie von Peter van Praet darf im Zusammenhang mit allen Szenen nicht vergessen werden.
Dieser in jedem Moment durchdachten, aber keineswegs intellektuell überfrachteten Sichtweise entsprach die brillante Umsetzung durch Francesco Lanzillotta am Pult des Orchestra Filarmonica Marchigiana. Dem Musikdirektor des Festivals gelang ein großartiger Triumphakt (an dem auf einer eingerichteten Nebenbühne die Banda „Salvadei“ teilnahm), dem aber so gar nichts Rhetorisches von plumpem Kriegsgeheul anhaftete. Eine besondere Leistung des Dirigenten war es auch, die zahlreichen zarten Momente von Verdis grandioser Partitur, beginnend mit dem innigen Vorspiel, in dem riesigen Rund durchhörbar zu gestalten. Ein großes Bravo! Der Coro Lirico Marchigiano „Vincenzo Bellini“ unter der Leitung des bedeutenden Chordirektors Martino Faggiani war jederzeit auf der Höhe seiner Aufgabe.
Wenn man eine szenisch wie orchestral so überaus befriedigende Aufführung gesehen hat, ist es (mir) unangenehm bis peinlich, an den stimmlichen Leistungen zu mäkeln. Bei den Bässen ist das leider unumgänglich, denn sowohl Fabrizio Beggi (Il re), als auch Alessio Cacciamani (Ramfis) ließen vokale Mängel hören, die über ein akzeptables Vibrato hinausgingen, welche Defizite angesichts des Umfang der Rolle bei Cacciamani natürlich schwerer ins Gewicht fielen. Der noch junge Messaggero F rancesco Fortes wirkte ziemlich nervös, machte seine Sache aber gut. Schönstimmig erklang der Sopran von Maritina Tampakopoulos als (diesmal sichtbare) Priesterin.
Den stärksten künstlerischen Eindruck machte Veronica Simeoni als durch ihre vergebliche Liebe nahezu blindwütig gewordene Amneris. Mit ihrem eher hell timbrierten Mezzo lotete sie die Gefühlszustände der Pharaonen/Vizekönigs-Tochter bis in größte menschliche Tiefen aus. Vielleicht gibt es Zuschauer, die sich ein dunkleres Organ gewünscht hätten, aber eine so markante Umsetzung aller charakterlichen Schattierungen der Amneris ist mehr als selten.
Ihre Gegenspielerin Maria Teresa Leva in der Titelrolle zeigte bei guter gesanglicher Bewältigung einmal mehr, dass heute lyrische Stimmen in ein Repertoire drängen, das für weit schwergewichtigere Organe gedacht war. So musste die junge Sängerin „Ritorna vincitor“ ihren Tribut zollen, während die lyrischere (und an sich schwierigere) Nilarie sehr gut bewältigt wurde. An Personalität mangelte es diese Aida noch. Ihr Radamès Luciano Ganci gefiel mit strahlenden Tenormaterial, das er mit wechselnder Fortune auch ins mezzavoce zwingen wollte. Schon diese Versuche seien, ganz ironiefrei, belobt, denn die Stimme ist von authentisch tenoralen Farbe, der man sehr gerne lauscht. Marco Caria war ein imposanter Amonasro, von dem man sich in Phrasen wie „Pensa che un popolo“ mehr Wärme gewünscht hätte. Dennoch war es eine gute Leistung.
Fazit: Ein Abend, der im Ganzen einen hinreißenden Eindruck entwickelt hat und vor allem zeigte, dass „Neuinterpretationen“ von sogenannten Repertoirewerken aufregend sein können, ohne dass ihnen vergewaltigende Interpretationen übergestülpt werden.
Eva Pleus 21.8.21
Bilder: Tabocchini Zanconi