Premiere am 12. März 2022
Temporeich
Lortzings Spielopern sind leider seit geraumer Zeit aus den Spielplänen verschwunden, wohl weil sie als verstaubt und rückständig angesehen werden. Dabei muss man jedenfalls beim „Wildschütz“ nur etwas genauer hinsehen, um zu entdecken, dass hinter der biedermeierlichen Fassade doch etwas mehr steckt als nur heiter-harmlose Unterhaltung. Im wie in allen seinen Opern von ihm selbst verfassten Libretto nimmt Lortzing Bezug auf das 1815 entstandene Lustspiel „Der Rehbock oder die schuldlosen Schuldbewussten“ von August von Kotzebue, das damals als bissiger Zerrspiegel der Gesellschaft galt. Dies hat Lortzing wohl auch wegen der damaligen strengen Zensur deutlich abgemildert, ohne die Spitzen gegen den Adel, der um jeden Preis unter sich bleiben wollte, zu eliminieren; auch die Pikanterien des Verwechslungsspiels blieben aufrecht erhalten.
Richtigerweise ist das Regieteam um Andrea Schwalbach mit der Neuinszenierung in der Zeit der Entstehung, im Biedermeier, geblieben, als der so genannte Vormärz unter der äußerlichen „Biederkeit“ schon heftig brodelte. Sie ließ sich bei ihrer sehr lebendigen Personenführung offensichtlich von der hohen Dynamik in den vielen, auch musikalisch hochwertigen Ensembles leiten, so dass es niemals Ruhepausen oder gar Langeweile gab. Im Gegenteil, es ging Schlag auf Schlag und Gag um Gag voran, bis sich die Missverständnisse im Finale in Wohlgefallen auflösten. Dass das Biedermeier auf der Bühne allgegenwärtig war, lag an der Vielzahl der Bühnen-Prospekte, die mit Gemälden von Carl Spitzweg bemalt waren, besonders „Der Sonntagsjäger“ beherrschte die Szene (Stephan von Wedel); ein großes Lob gilt dem Malersaal für die sehr ansehnlichen Bilder – eine aufwändige, tolle Arbeit! Ebenso gelungen waren die prächtigen Kostüme und Frisuren mit ihren zeitgerechten Schnörkeln und Übertreibungen von Pascal Seibicke.
Rainer Mesecke/Jelena Bankovic
Von Beginn an lief in dieser aufgepeppten biedermeierlichen Atmosphäre die im Ergebnis doch harmlose Verwechslungsgeschichte in rasanter Turbulenz ab, die vom Braunschweiger Opernensemble viel abverlangte. Dass alle mit unbändiger Spiellaune bei der Sache waren, begeisterte das Publikum zu Recht. Das hohe Tempo wurde auch dadurch erreicht, dass die Rolle des Haushofmeisters Pankratius, der im Original nur im 2. Akt auftritt, stark aufgewertet war. Denn Mike Garling wuselte als „Mädchen für alles“ und eine Art „Strippenzieher“ ständig über die Bühne; dabei verzichtete man auf das sonst für Pankratius typische Sächsisch (Uraufführung war in Leipzig), sondern verortete ihn sprachlich in den Norden. Der Gipfel des turbulenten Treibens war in dem berühmten „Billard-Quintett“ im 2. Akt erreicht, als man alles noch dadurch veralberte, dass die Beteiligten auf verschiedenen Instrumenten (Gitarre, Blockflöte, Triangel, Mundharmonika) „Kein schöner Land“ intonierten. Für Spaß über das Libretto hinaus war jeweils gesorgt! Eine weitere gute Idee war, die Arien durch darstellerische Beteiligung anderer aufzulockern: So kommunizierte Rainer Mesecke als Schulmeister Baculus mit seinem flexiblen Bass über den erwarteten Geldsegen von „5000 Talern“ nicht nur mit dem Publikum, sondern auch mit Pankratius.
Rainer Mesecke/Mike Garling
Ein eitler, der Weiblichkeit der „unteren“ Ebene nachstellender Graf von Eberbach war Maximilian Krummen, dessen abgerundeter, höhensicherer Bariton zur Partie bestens passte. Er wurde bei „Heiterkeit und Fröhlichkeit“ von etwas zu laut rollenden Büschen „begleitet“, die von den Mädchen des Ortes gesteuert waren. Einziger Gast war als Baronin Freimann Sieglinde Feldhofer aus Graz, die mit temperamentvollem Spiel und einem volltimbrierten, schön aufblühenden Sopran gefiel. Baron Kronthal war Kwonsoo Jeon, dessen nun auch im piano gut geführte, charakteristische Stimme in den Ensembles tenorale Glanzpunkte setzte. In den 1840er-Jahren war Leipzig von einem wahren Sophokles-Fieber erfasst, dem Isabel Stüber Malagamba als Gräfin Eberbach mit gespieltem, großem Ernst witzigen Ausdruck gab, wozu auch ihr charaktervoller Mezzo beitrug.
Kwonsoo Jeon/Sieglinde Feldhofer/Mike Garling/Isabel Stüber Malagamba/Maximilian Krummen
Es bleiben noch die kleineren Rollen: Das manchmal auch heftig keifende Gretchen gab Jelena Banković mit klarem Sopran, während man den schönen Mezzo von Milda Tubelytė als Kammermädchen Nanette gern länger gehört hätte. Die lebendig agierenden Choristinnen und Choristen hatten darstellerisch viel zu tun und klangen in der Einstudierung von Johanna Motter durchweg ausgewogen. Am Pult des am Premierenabend ausgezeichneten Staatsorchesters stand Braunschweigs neuer 1. Kapellmeister Mino Marani, der mit klarer Zeichengebung für den nötigen Schwung sorgte, was vorzüglich mit dem temporeichen Spiel auf der Bühne korrespondierte.
Das Premierenpublikum war voller Begeisterung und bedankte sich bei allen Mitwirkenden mit starkem, lang anhaltendem Beifall, der erst endete, als ein Zwischenvorhang mit dem blau-gelben Staatswappen der Ukraine fiel. Vor Beginn hatte Generalintendantin Dagmar Schlingmann zu Spenden für Ukraine-Hilfen aufgerufen.
Fotos: © Joseph Ruben
Gerhard Eckels 13. März 2022
Weitere Vorstellungen: 18.3.,21.4.,8.+20.+29.5.,4.+11.6.2022