Braunschweig: „Alcina“

Premiere am 16. Oktober 2021

Barockes – stark gekürzt

Ekaterina Kudryavtseva/Milda Tubelyte/Statisterie

Es ist schon sehr lange her, dass es im Staatstheater eine szenische Aufführung einer Händel-Oper gab. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass nun der Spielplan um die 1735 am Londoner Covent Garden uraufgeführte „Alcina“ bereichert wurde. Die Geschichte um die Zauberin Alcina, die nach zahlreichen sexuellen Abenteuern mit auf ihre Insel gelockten Männern diese, wenn sie ihrer überdrüssig geworden ist, in Tiere, Pflanzen oder Steine verwandelt, nun aber erstmals wahre Liebe empfindet, ist Ludovico Aristos „Orlando furioso“ zuzuordnen. Das seit dem 16. Jahrhundert in ganz Europa bekannte Epos enthält innerhalb der Rahmenhandlung, dem Kampf der Christen gegen die Heiden, zahlreiche selbstständige Einzelepisoden, die von den Taten fahrender Ritter und ihren Liebesabenteuern handeln. Eine dieser Episoden berichtet von der Zauberin Alcina: Der auch für das Bühnenbild verantwortliche Regisseur Ben Baur lässt deren Reich statt auf der märchenhaften Zauberinsel des Librettos in einem Pariser Edelbordell um 1900, einem so genannten „Maison close“, spielen. Dies gab der Kostümbildnerin Julia K. Berndt die willkommene Gelegenheit, in der Kleidung der Jahrhundertwende zu schwelgen – ein klarer Pluspunkt der Produktion.

Isabel Stüber Malagamba/Jelena Bankovic

„Alcina“ ist eine Zauber- und Tanzoper, die anschaulich das Zusammenspiel aller barocken Künste vor Augen führt; dabei bestechen die Gesangspartien, die von virtuoser Bravourarie bis zu lyrischen Szenen alles enthalten, was große Oper ausmacht. Nun hat das Regieteam in Braunschweig das Ganze von sonst weit über drei Stunden auf gut zwei Stunden gekürzt und war dabei noch nicht einmal konsequent: In Alcinas „Etablissement“ ist nichts so, wie es scheint; Ruggiero, der eigentlich mit Bradamante verlobt ist, hat unter Alcinas Einfluss sein früheres Leben völlig vergessen. Um Ruggiero zurückzugewinnen, begibt sich Bradamante – verkleidet als ihr Zwillingsbruder Ricciardo – gemeinsam mit Ruggieros früherem Erzieher Melisso in Alcinas „Haus“. Dort gilt es, nicht nur Alcinas mächtige Magie abzuwehren. Denn Alcinas Schwester Morgana fühlt sich zu „Ricciardo“ so hingezogen, dass sie ihren Liebhaber Oronte verlässt, was diesen zu eifersüchtigen Intrigen veranlasst. Eine der „Damen“, die junge Oberta (im Original der Knabe Oberto), sucht ihren vermissten Vater. Der Schluss in Braunschweig bleibt für alle offen: Oberta erhält keine Antwort auf ihre Fragen (wie auch z.B. in Bremen hätte diese Figur entfallen können.), das Paar Morgana/Oronte trennt sich, Ruggiero und Bradamante gehen wohl ebenfalls getrennte Wege, weil er sich nicht recht entscheiden kann, und Alcina bleibt allein zurück.

Ekaterina Kudryavtseva

Schon zum Orchestervorspiel wurde deutlich, dass „Alcina“ auch eine Tanzoper ist; denn das Personal des „Maison close“ stellte sich choreographisch (Robina Steyer) vor. Allerdings hätte man das zusammenhanglose, merkwürdige Ballett der Statisterie mit Palmwedeln kurz vor der großen Szene der Alcina am Schluss des 2. Aktes getrost streichen können. Insgesamt fiel die sinnfällige Personenführung des Regisseurs überaus positiv auf, indem er die nicht konfliktfreien Beziehungen der Personen zueinander auch während der nur durch Rezitative unterbrochenen, aneinander gereihten Arien deutlich herausarbeitete. Das gelang natürlich auch durch das darstellerische Können aller Beteiligten. Hier ist an erster Stelle Ekaterina Kudryavtseva in der vielschichtigen Titelrolle zu nennen. Die von mir nach wie vor sehr geschätzte Sängerin stellte die verschiedenen Seiten der Alcina durchweg überzeugend heraus. Besonders den dramatischen Passagen der anspruchsvollen, virtuosen Partie wurde ihr kräftiger Sopran voll gerecht, was in gleichem Maße für die vielen Läufe und Koloraturen galt. Leider machten sich in den ruhigeren, langsamen Tonfolgen Unsauberkeiten in der Intonation störend bemerkbar, was aber den positiven Gesamteindruck nur wenig schmälerte. Wie so oft begeisterte Milda Tubelytė als Ruggiero: Wie sie den jungen Mann mit seinen teils unbekümmerten, dann aber hin und her gerissenen Gefühlen gestaltete, hatte großes Format. Damit korrespondierte die fast schon perfekte Führung ihres abgerundeten Mezzosoprans durch alle Lagen, wobei die lockeren Koloraturen stets von einer Klarheit ohnegleichen waren.

Milda Tubelyte

Als Bradamante trat Isabel Stüber Malagamba auf, die mit ihrem charaktervollen Mezzo mit den hohen Anforderungen der barocken Singweise angemessen zurechtkam, wenn ihr auch die vielen Koloraturen nicht immer wie selbstverständlich gelangen. Das weitere Paar Morgana/Oronte gaben Jelena Banković mit etwas undifferenziertem Sopran und Joska Lehtinen mit schlank geführtem Tenor. Schließlich ist noch als Oberto Veronika Schäfer zu nennen, die klarstimmig aus ihrer zweiten Arie ein kleines Kabinettstückchen machte; sicher ergänzte als Melisso Rainer Mesecke, der trotz Indisposition die Premiere rettete.

Die musikalische Leitung des überwiegend mit Streichern besetzten Staatsorchesters hatte die Braunschweiger Kapellmeisterin und Maestro suggeritore Christine Strubel. Sie sorgte mit klarer Zeichengebung für stringent schlanken Klang und unterstützte so mit der kompetenten Continuo-Gruppe von Violoncello, Theorbe, Kontrabass und Cembalo die Akteure auf der Bühne.

Das Publikum war zu Recht begeistert und dankte allen Mitwirkenden und dem Regieteam durch starken, lang anhaltenden Beifall.

Fotos: © Thomas M. Jauk (3), Bettina Stoess (1)

Gerhard Eckels 17. Oktober 2021

Weitere Vorstellungen: 20.,22.,28.10.+12.11.+18.,25.12.2021 u.a.