Premiere am 24.10.15
Unterhalten lassen und Nachdenken
"Candide" darf wohl als Leonard Bernsteins Schmerzenskind bezeichnet werden, denn an keinem anderen Werk hat er noch so lange "herumgedoktort". Ist die gewählte Bezeichnung "Comic Operetta" die richtige oder ist das Werk eher ein "Sophistic Musical" ? Auf jeden Fall taucht es in der letzten Zeit immer wieder auf den Spielplänen auf und fasziniert, wie ein mehrfach geschliffener Edelstein, je aus welcher Perspektive man ihn betrachtet, durch seine vielen Facetten. Die Handlung nach Voltaires gleichnamigem Bildungsroman ist schon fast grotesk zu nennen und führt von einem deutschen Phantasie-Westphalen durch Europa über den Ozean und zurück. Die Figuren sterben, um weiterzuleben oder als Alter Ego mit umgekehrtem Vorzeichen wieder aufzutauchen. Im Grunde geht es um das Zurechtfinden der einzelnen Persönlichkeit inmitten einer zerrütteten Welt, den Glauben an sich und seine Möglichlichkeiten nicht zu verlieren, auch wenn das Leben mit grausamen Unwägbarkeiten aufwartet. Mit einem Wort: ein Stück, wie gemacht für unsere Welt. Bernsteins Musik kittet in ihrer ambivalenten Haltung dieses bunte Kaleidoskop zu einem herrlich gemischten Amalgam, wer das Stück nicht kennt, weiß nie, was als nächste Musiknummer um die Ecke kommt. Das Ensemble einer Opera Comique wechselt zu einem Choral, eine Schlachtenmusik zu einem Lamento, eine Koloraturarie wird plötzlich lateinamerikanisch und, und, und….. Die Musik ist einfach brilliant , unterhaltsam und spannend. Hier jetzt auch keine Handlungsschilderung, die steht im Opernführer !
Wie bietet man so einen "Kessel Buntes" dar, man könnte sich natürlich mit viel Ausstattungspomp durch die Erzählung schicken, doch Matthias Davids wählte einen anderen, wie ich finde, auch besseren Weg in dr Staatsoper Hannover: die Musik steht im Mittelpunkt ! Und das meine ich im wörtlichen Sinne, denn Matthias Fischer-Dieskau als Ausstatter stellt das Staatsorchester in den Mittelpunkt der Bühne. Einige Stege führen, wie die Treppen einer Revue, darum herum und auch mittendurch, auf der oberen Spielfläche assoziative Andeutungen durch sinnvoll eingesetztes Video und ein paar Schnüre, die wie ein "Hexenspiel" mal ein Haus oder Boot gerieren, ansonsten nur die Protagonisten, der Chor und das Orchester mit plakativem Spiel. Der Aufführung haftet manchmal durchaus etwas Semikonzertantes an, was aber nicht negativ wirkt. Es gibt durchaus viel Spiel und auch Tanz (Choreographie von Simon Eichberger), nur drängt sich die Bühne nicht so in den Vordergrund, sondern läßt vor allem die Musik und den Text/ die Handlung sprechen. Dafür kann sich der Zuschauer besser konzentrieren, auf das was geboten wird, statt sich optisch einlullen zu lassen. Hören, Sehen und Denken sind gleichberechtigte Parameter. Langeweile kommt trotzdem nicht auf.
Es gibt einen Spielleiter; Vicco von Bülow/Loriot hatte das für eine konzertante Produktion schon trefflich vorgemacht; es ist der Autor selbst, Voltaire, der uns mit Allonge-Perücke und Leibrock durch das Spiel führt, Frank Schneiders macht das mit trockener Süffisanz, doch gleichzeitig ist er auch der philosophische Lehrer Pangloss, der uns die Leibnizsche Theodizee von der besten aller, nein, nicht Butterkekse, eben aller Welten darstellt, genauso wie die menschliche Gegenthese dazu den Zyniker Martin und den lebenstüchtigen Cacambo, eine große Rolle mit hoher Könnerschaft gegeben. Sein Schüler, eben Candide, durchleidet das Leben bis zum Entschluss "seinen eigenen Garten zu pflegen", sich nicht durch die Wirrungen entmutigen zu lassen, sondern im Hier und Jetzt das für ihn Beste zu finden, Sung-Keun Park spielt und singt den sympathischen Naivling mit geradem, berührenden Tenorklang im Kostüm eines "Deutschen Michels" mit Zipfelmütze. Erfindet seine desillusionierte, wie desillusionierende Geliebte Cunegonde in Cornelia Zink, eigentlich eine mit allen Wassern gewaschene Schnepfe, doch mit lebentüchtig sympathischen Zügen. Die Sopranistin verbreitet koloraturglitzernd "Glitter an be gay" und auch die unangenehmen Winkel dieses gierigen Geschöpfes mit passend outrierender Verve. Zumal sie in der Old Lady von Diane Pilcher die richtige Lehrerin für die falschen Wege findet, kleines Manko die spanische Nummer "I´m so easily assimilated" könnte etwas effektvoller gebracht werden, da findet auf der Bühne doch rechte Konfektionsware statt. Carmen Fugiss als Paquette ist die dritte im Bunde dieser höllisch lebenspatenten Frauen. Christopher Tonkin kehrt als Maximilian mal mehr schwüle oder kühle Gefühle bei, sein männlicher Bariton gefällt in allen Gesangslagen.
Sehr schön die Idee die Schauspieler Daniel Drewes und Jan Viethen in vielen Rollen vom Kardinal bis zum Schaf als Co-Spielleiter an den Start zu schicken, also fast noch zwei Hauptpartien zu kreiern, von beiden trefflich bedient . Die vielen anderen kleinen und auch gar nicht so kleinen Rollen und Auftritte werden von Patrick Jones, Daniel Eggert, Gevorg Aperants Hakobjan, Marco Vassalli, Byung Kweon Jun und Edward Mout mit viel Spieleinsatz ganz hervorragend dargeboten. Der Chor der Staatsoper bietet musikalischen Hochglanz und massig viel Spielfreude. Und da wäre natürlich noch ein Hauptakteur: das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter Karen Kamensek. Schon die Ouvertüre, gerne als brilliante Orchesterzugabe gegeben, zeigt das hohe, musikalische Niveau. Musikalische Pointen blitzen, die Soli. die Tutti, alles sitzt, die Freude mit und in dieser Musik ist sicht- spür- und greifbar. Karen Kamensek verläßt leider diese Spielzeit ihren GMD-Posten in Hannover und "Candide" zu produzieren war ihr wohl auch ein Herzenswunsch, auch das ist spürbar. Danke!
Immerhin ein Abend von drei Stunden, voll mit toller Musik, die noch allzuvielen unbekannt ist; eine Aufführung die ohne Aktualisierungen und ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, ein Stück das von sich aus Bezüge zu unserem Leben bringt, ohne einer Tagesaktualität hinterherzuhaschen. Dazu ein gut besuchtes Auditorium mit einem aufmerksamem Publikum, die das anscheinend alles zu schätzen wußten. Der Applaus kam spürbar von Herzen für diesen anregenden, unterhaltsamen Abend. Für mich ist das bestes Theater… "any questions" ?
Martin Freitag 1.12.15
Fotos: Thomas M. Jauk