Premiere: 17.09.2011, besuchte Vorstellung: 07.09.2017
Eindrucksvolle One-Woman-Show
Lieber Opernfreund-Freund,
eine Frau alleine auf der Bühne. Sie liebt, sie leidet, sie hofft. Sie sehnt sich vor allem nach Bewunderung, nach Liebe, nach ein klein wenig Glück. Wie aus der Ferne hört sie Stimmen, an die sie sich zu erinnern scheint. Oder erträumt sie sich die nur? Sie verzweifelt. Sie stirbt. Ganz alleine. Nein, die Rede ist nicht von Poulencs Kammeroper „La voix humaine“, sondern von Verdis Gassenhauer „La Traviata“. Kann so große Oper funktionieren? Sie kann, wie derzeit in Repertoirevorstellungen an der Staatsoper Hannover zu erleben ist.
Regisseur Benedikt von Peter hat diese Produktion in der Spielzeit 2011/12 aus der Taufe gehoben, dabei den radikalen Ansatz gewählt, nur Violetta auf der Bühne zu visualisieren, und damit eine Kult-Inszenierung geschaffen. Ausgestattet mit einer Handvoll Requisiten wie Tisch, Stuhl, Spiegel und Tür (Bühne: Katrin Wittig) lässt er aus der Hauptfigur die einzige Figur werden, lässt sie allein mit ihren Sehnsüchten und lässt sie in reizvollem Ballettrock oder verspieltem Tulpenkleidchen, die Geraldine Arnold geschneidert hat, ihre Geschichte aus der Erinnerung durchleben – oder ihre Träume. Alfredo, dessen Vater, Annina, Flora und der Baron, die Gäste – alle sind nur zu hören, singen vom Rang herunter, werden Teil des Publikums. Von Peter lässt die Zweisamkeit, die Geborgenheit und Liebe, die Violetta erträumt, nicht zu. Violetta bleibt allein. Allein mit ihrem Publikum, für das sie alles spielt und durchlebt. Diese Lesart ist so ungewöhnlich wie packend. Sie berührt, beeindruckt, verstört. Nur selten will von Peter mit seiner Deutung zu viel, etwa, wenn er eigene Texte einbaut. Das hat dann mit Verdis Werk wenig zu tun, dafür aber umso mehr mit von Peters Violetta.
Bei ihr kann sich der Regisseur auch nach sechs Jahren noch auf die Künstlerin verlassen, die einst die Premiere gestaltet hat. Und Nicole Chevalier ist wahrlich eine Ausnahmekünstlerin. Wie sie singt, wie sie die Rolle er-lebt, wie sie tanzt und spielt, zittert und keucht, das ist so echt, so packend, zieht einen so in seinen Bann, dass man die zweieinhalb ohne Pause durchgespielten Stunden keinen Moment den Blick von ihr wenden kann. Der Gesang der Amerikanerin ist gefühlvoll und fesselnd, weit weg von Belcanto. Sie lässt das Glück ihrer Figur ebenso zu Klängen werden, wie deren Leid, spuckt Töne aus und verkürzt sie, nur um sich im nächsten Moment zum lyrischsten Piano emporzuschwingen. Dazu liegt sie auf dem Rücken, singt aus den unmöglichsten Positionen oder zu parallel dargebotenem Spitzentanz. Das ist große Kunst! Nicole Chevalier macht diese „Traviata“ – ganz im Sinne der Regie – zur One-Woman-Show.
Da haben es die anderen Protagonisten schwer, nicht nur, weil sie auf der Bühne unsichtbar bleiben und nur durch ihr stimmliches Können überzeugen müssen. Am besten gelingt das Seung-Gi Jung als Giorgio Germont. Mit facettenreichem Bariton formt der Südkoreaner Alfredos Vater mit einer gelungenen Mischung aus Autorität und Mitgefühl. Sein Sohn wird von Philipp Heo gesungen, dessen Tenor über ein angenehmes, beinahe baritonal-dunkles Timbre verfügt, der deshalb aber nur allzu selten metallischen Glanz verströmt. Da hätte mich der eine oder andere Spitzenton versöhnen können. Ania Vergys Annina ist mitfühlend, Julie-Marie Sundals Flora kess. Bei den kleineren Herrenrollen macht vor allem der profunde Bass von Yannick Spanier als Doktor Grenvil Eindruck.
Das Orchester spielt auf der Bühne hinter einem Gaze-Vorhang, der kräftig erklingende Chor (Leitung: Lorenzo da Rio) singt mit den übrigen Solisten aus dem 1. Rang. Vielleicht ist es dieser besonderen Postierung geschuldet, dass der eine oder andere Choreinsatz nur recht unsauber gelingt. Auf der Bühne hat Gregor Bühl das Niedersächsische Staatsorchester Hannover jedoch fest im Griff, präsentiert einen schnörkellosen Verdi, lässt Nicole Chevalier und dem Zuschauer Zeit.
Glücklicherweise nimmt das Publikum sich die auch weitgehend. Die „Traviata“ ist normalerweise von Zwischenapplaus durchzogen, weil jeder jede Melodie von irgendwoher kennt und meint, die beklatschen zu müssen. Das fesselnde Spiel von Frau Chevalier und das einfühlsame Dirigat von Gregor Bühl allerdings vereinnahmen den Zuschauer dermaßen, dass der meist nur gebannt im Sessel sitzt, statt alles mit „Bravo“-Rufen zu goutieren – von einer Ausnahme im Parkett einmal abgesehen.
Tosender Applaus brandet erst zum Schluss auf, der ganze Saal steht und feiert diese Darbietung, feiert diese eine Frau, feiert Nicole Chevalier, die sicher nicht die zarteste Traviata war, nicht die mit den feinsten Piani und nicht die mit den perlendsten Koloraturen, aber ganz sicher die, die mich in 25 Jahren – 1992 sah ich diese Oper zum ersten Mal – am tiefsten bewegt hat. Danke dafür!
Bilder (c) Nicole Chevalier