Schon wieder eine Neuinszenierung, die die Turbulenzen um Figaros Hochzeit in die Gegenwart transzendieren will, womöglich noch mit spartanischer Ausstattung in trister Kulisse?
Falsch geraten. Wenn sich der Vorhang nach einer schwungvollen Ouvertüre hebt, hellen sich spontan die Gesichter der Premierenbesucher auf. Hübsche Sekretärinnen im bunten 60er-Jahre-Chic arbeiten emsig an Schreibtischen in einem großen Büro. Im Hintergrund besprechen sich lässig einige Businessmen. An den Wänden hängen Werbeplakate für Lippenstifte, Krawatten und Hüte. Regale mit Büroutensilien und angenehmes Licht schaffen Atmosphäre. Auch Susanna, Kreativmanagerin, und ihr Freund Figaro gehören zum Team dieser Werbeagentur. Beide freuen sich auf ihre Hochzeit, die noch an diesem Tag stattfinden soll und in einem Nebenraum geht es schon fast zur Sache. Graf Almaviva, Boss der Firma, reklamiert allerdings das „ius primae noctis“ für sich. Der Bräutigam ist wütend und will dies verhindern. Noch weiß er nicht, dass Kollegin Marcellina ein Auge auf ihn geworfen hat. Sie lieh ihm einst Geld und es besteht ein Vertrag, dass er sie heiraten muss, falls er seine Schulden nicht begleicht. Don Bartolo, der Firmenanwalt, will ihr helfen, erledigt aber zuerst „dringende Geschäfte“ auf dem Damenklo: Zum Schießen, allein schon wegen seiner Körperfülle. Cherubino, dem testosterongesteuerten Nachwuchstalent, droht die Entlassung, weil er über alle Frauen herfällt und klagt Susanna sein Leid.
Nun setzt sich ein Karussell an Intrigen und Machtspielchen, Leidenschaften und Enttäuschungen mit so viel Witz, Groteskem und Komik in Bewegung, dass man unweigerlich in den Sog der Ereignisse hineingezogen wird. Die von Walter Schütze phantastisch konzipierte Drehbühne scheucht Darsteller wie Zuschauer durch den Kosmos dieser Bürowelt. Jeder Raum – vom Großraumbüro bis zur Abstellkammer, von Privaträumen und Meetingareas bis zu den bestens ausgeleuchteten Toiletten – hat seine eigene Atmosphäre und Funktion. Nichts bleibt leere Kulisse, jedes Accessoire hat seine Funktion, ob Blumentopf oder Klopapier. In alle Richtungen ist Kommen und Gehen und der Blick durch Fenster und Türen zeigt stets ein Parallelgeschehen. Alle Darsteller leben ihre Rollen in ihrem ganzen Facettenreichtum, so dass jeder Ton, jeder Blick, jede Geste und Bewegung, jedes noch so kleine Detail Wirkung hat. Nichts, aber auch gar nichts, ist bloßer Aktionismus.
Figaro hat inzwischen die schrill und bunt kostümierte Hochzeitsgesellschaft in spe organisiert, die den Grafen in Feierlaune und mit viel Brimborium zu seinem Verzicht auf sein Recht der ersten Nacht gratuliert… Cherubino, verkleidet als überdimensionales Küken, muss als Werbefigur in den Außendienst. Das tut weh, noch mehr der Spott und die Schadenfreude der anderen. Während der Kloputzer sichtlich angewidert seine Arbeit verrichtet, sitzt die Gräfin alleine und traurig im Wohnzimmer. Sie möchte den Gatten zurück oder sterben. Susanna, Figaro und sie fädeln eine Intrige ein. Er soll glauben, dass sie einen Geliebten und diverse Heimlichkeiten hat. Rasend vor Eifersucht will er mit Panzerknackerausrüstung eine Tür zur Abstellkammer aufbrechen.
Doch dort ist nur Susanna, die sich versteckt hat. Auf Knien bittet er seine Frau um Verzeihung, doch die haut ihm seine ganzen Pornomagazine um die Ohren. Figaro will endlich heiraten, Marcellina besteht auf Vertragserfüllung, die Gäste warten und so setzt er in seinem Unmut die Sprinkleranlage in Gang, Chaos bricht aus, die Drehbühne rast und alle spielen verrückt. Susanna willigt zum Schein ein, sich abends mit dem Grafen zu treffen. In Wirklichkeit wird es die Gräfin in deren Kleidern sein. Figaro hat Glück, denn es stellt sich kurioserweise heraus, dass er der verschwundene Sohn von Marcellina und Bartolo ist und es herrscht große Freude. Cherubino und Barbarina verlustieren sich auf der Kloschüssel. Auf den Toiletten herrscht Tohuwabohu. Jeder traut jedem alles zu. Figaro vermutet, dass Susanna ihn hintergeht und macht der Gräfin Avancen. Und wenn der Graf am Ende meint: „Endlich sind alle im Glück vereint.“, schauen alle nur gequält. Eigentlich könnte das Fest beginnen, aber die Gräfin geht mit gepackten Koffern und auch Susanna lässt Figaro einfach stehen.
Mozart und Da Ponte bereitete es fraglos diebisches Vergnügen, die gesellschaftliche Ordnung etwas umzudrehen, die herrschende Klasse frech zu karikieren, und das mit einer so hinreißenden Musik in aberwitzigem Tempo, dass kaum Zeit blieb, sich etwa zu entrüsten. Die Komödie wie die Satire darf alles und der damalige Kaiser Josef II. war begeistert. Mozart langweilte sein Publikum nicht durch endlose Rezitative und Arien, sondern schuf eine seiner musikalisch zeitlos schönsten Opern, die auch den Laien gefiel. Nicht von ungefähr schwärmt GMD Killian Farrell von der „frenetischen Energie“ dieses Werks und vergleicht es mit einem „Perpetuum mobile“, das nie aufhört, sich zu drehen und die Meininger Hofkapelle gibt Gas. Was für eine bewundernswerte Symbiose des Orchesters und ihrem Dirigenten mit dem Geschehen auf der Bühne, und ein opulenter Chor in fantasievollen Kostümen zeigt Vergnügen und Spielfreude pur.
Regisseur Philipp M. Krenn zeigt das zeitlos menschliche Verhalten in seiner Wankelmütigkeit überdeutlich in Mimik, Gestik und Haltung der Protagonisten. Es gibt nicht die Guten oder die Schlechten. Jeder hat Ecken und Kanten. Keiner ist ein Heiliger, sondern vielen Gefühlen und Versuchungen ausgesetzt. Wo, wenn nicht in einer Firma, sind Nettigkeiten und Gemeinheiten, Opportunismus und Machtgehabe zuhause? Es gibt sie einfach, die Arroganz der Bessergestellten, die sich alles herausnehmen: Siehe Bartolo, der sich ohne Scham auf dem Damenklo verewigt oder Boss Almaviva, der meint, sich jede Frau gefügig machen zu können. Aber auch die kleineren Nummern mischen auf. Sind Lust und Erotik der Kitt oder Sprengstoff? Herrliche Situationskomik und viel feiner Witz sorgen dafür, dass die Oper nicht verbissene und farblose Gesellschaftsanalyse betreibt.
Walter Schützes Kostüme von Chor und Ensemble krönen diese Inszenierung. Der Zuschauer möchte Farbe und Fantasievolles und keineswegs Tristesse und Minimalismus. Nicht nur Cherubinos Verkleidung als Riesenküken ist ein Volltreffer und macht Spaß. Auch alle anderen Outfits sind perfekt. Monika Reinhard, die Hauptfigur Susanna, zeigt wieder mal ihr großartiges Talent, eine Rolle nicht nur brillant zu singen, sondern die Figur völlig lebensecht zu spielen. Sie verzichtet auf Theatralik und agiert voller Natürlichkeit, denn sie kann sich der Wirkung ihrer Stimme sicher sein. Unspektakulär im karierten Rock, Blüschen und Pullöverchen könnte man sie glatt unterschätzen, aber sie ist die einzige, die in diesem Chaos noch Linie hat.
Johannes Schwarz ist noch nicht lange bei den Meiningern, hat aber bereits ein hervorragendes Debüt als Bass-Bariton hinter sich und überzeugt als Figaro mit viriler Stimme in dieser Mammutrolle. Im typisch smarten Managerlook wirkt er jungenhaft und windet sich äußerst agil durch das Geschehen. Johannes Mooser verkörpert in Idealbesetzung den Grafen Almaviva, mal übergriffig, mal jämmerlich, und die gewaltige Resonanz seiner Stimme passt zu seiner Rolle als Boss der Werbeagentur. Emma McNairy, auch erst seit kurzem im Meininger Ensemble, verharrt in ihrer Rolle als betrogene Ehefrau und gibt der Enttäuschung Raum. Die Ausdrucksintensität ihrer Stimme lässt aufhorchen und rührt. Erst am Ende, wenn sie mit gepackten Koffern davonrauscht, zeigt sie Vitalität.
Sara-Maria Saalmann darf als Cherubino wieder einmal voll ausleben, was sie drauf hat. Liebestoll und chaotisch, herrlich unkonventionell und jungenhaft ist sie immer da, wo sie eigentlich nicht sein sollte und sorgt für Verwicklungen. Ihr glockenheller, kräftiger Sopran verleiht diesem jungen Spund besondere Strahlkraft. Marianne Schechtel, Mezzosopran, muss als Marcellina erst einmal die Unsympathische mimen, arrogant, sehr selbstbewusst und strahlt Autorität aus. Gesanglich ist sie top. Einfach umwerfend passt Selçuk Hakan Tıraşoğlu in die Rolle des viel beschäftigten Anwalts Bartolo. Sein „kolossales“ Auftreten und sein stimmstarker sonorer Bass – besonders auf der Damentoilette – sorgen für Begeisterung. Tobias Glagau hat als Basilio nur eine Nebenrolle, mimt aber den windigen Intriganten sehr überzeugend. Julie Mooser als Barbarina singt samtweich und darf am Ende noch im Küken-Kostüm dem Grafen eins auswischen.
Frenetischer Applaus und lang anhaltenden Beifall zeigen einem erschöpften, aber glücklichem Ensemble samt Regisseur, Bühnenbildner und Dirigenten, dass ihnen etwas ganz Großes gelungen ist. Mit Sicherheit wird diese Produktion in der Rangliste der zahlreichen „Figaros“ einen Platz ganz oben bekommen.
Inge Kutsche, 30. Oktober 2023
Die Hochzeit des Figaro
Wolfgang Amadeus Mozart
Staatstheater Meiningen
Besuchte Premiere am 27. Oktober 2023
Inszenierung: Philipp M. Krenn
Musikalische Leitung: GMD Killian Farrell
Meininger Hofkapelle
Weitere Vorstellungen: 25.11. | 20.12.2023 | 14.01. | 03.03. | 21.03 | 19.04.2024