In der Schrift „Eine Mitteilung an meine Freunde“ hat Richard Wagner den Fliegenden Holländer eindeutig charakterisiert: Es sei „die Sehnsucht des Odysseus nach Heimat, Herd und Eheweib“ die diese mythische Figur, halb Ahasverus, halb Seefahrer, kennzeichne. Diese „dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer aber gewinnen durch – ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, – sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft.“ Utopische, heroische Aufopferungsbereitschaft kennzeichnet also Sentas Tat. Sie opfert sich, um dem „Holländer“, der nicht sterben kann, die Erlösung von seinem Fluch zu ermöglichen, den einst Satan über ihn verhängte, als er beim Versuch, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln, einen gotteslästerlichen Fluch ausstieß. Alle sieben Jahre darf er an Land gehen, um die Frau zu finden, die ihn durch ihre Treue erlösen kann.“
Als literarische Vorlage für diese romantische Oper diente Wagner Heinrich Heines Erzählung über den sagenumwobenen Holländer im gesellschaftskritischen Romanfragment „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“. Als reale Vorlage mag die Überlieferung der Geschichte des niederländischen Ostindienfahrers des 17. Jahrhunderts, Bernard Fokke, gelten. Er war bekannt für die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der er von den Niederlanden nach Java fuhr. Er legte die Strecke regelmäßig so schnell zurück, dass man ihm schon einen Bund mit dem Teufel nachsagte. Als er von seiner letzten Fahrt nicht zurückkehrte, ging man davon aus, dass er nun als „Fliegender Holländer“ im Auftrag des Teufels die Meere durchkreuzen müsse.
Regisseur Martin G. Berger erzählt und zeigt eine andere Geschichte: Alle sieben Jahre veranstaltet bei ihm der Unternehmer Daland in einem Bungalow mit Garage und hölzernen Gartenmöbeln samt bunter Glühbirnengirlande eine Piraten-Party zwischen Karneval und Betriebsfeier. Für die Mischung aus opulenter historischer Kostümierung (wie aus dem Fundus zusammengesucht) und heutiger Freizeitmode mit Jeans ist Esther Bialas verantwortlich. Auf den Übertiteltafeln und auch auf einer Leinwand über dem Bungalow, den Alexandre Corazzola auf die Bühne gesetzt hat, ist bei geöffnetem Vorhang schon vor Beginn zu lesen: „Alle sieben Jahre feiert der Unternehmer Daland eine große Piratenparty. Auf dem Fest vor einundzwanzig Jahren verließ ihn seine Frau und nahm die damals vierzehnjährige Tochter Senta mit.“
Nun kehrt sie also erstmals nach Hause zurück. Sie ist mittlerweile schon 35 Jahre alt und soll an Dalands Zufallsbekanntschaft verschachert werden. Das lässt sich mit Wagners Libretto überhaupt nicht vereinbaren. Außerdem lernen wir vermutlich zum ersten Mal in der Inszenierungsgeschichte von Wagners vorrevolutionärem Werk aus dem Jahre 1843 die vom dichtenden Komponisten nicht einmal erwähnte Mutter kennen. Sie taucht jedenfalls in den Rückblende-Videos von Vincent Stefan immer wieder auf. Auf der heruntergelassenen Leinwand sieht man aber auch stürmische Meeresszenen, Ausschnitte aus einem historischen filmischen Holländerschinken, die Gesichter Sentas und des Holländers sowie eines Senta-Doubles als Mädchen mit roten Röckchen und roten Kopfbedeckungen. Das Regieteam erzählt plakativ psychologisierend „die Geschichte einer Entzauberung, in der die Realität hinter dem Mythos erkannt wird“ (Alexandre Corazzola).
Es ist ein Tohuwabohu durcheinanderwirbelnder Filmsequenzen und szenischer Aktionen, die es dem Zuschauer nahezu unmöglich machen, den Handlungsverlauf und das, worum es eigentlich geht, zu verstehen. Zumal alle Regieanweisungen Wagners Lügen gestraft werden. Schon in der ersten Szene bemerkt man nämlich, dass die Behauptung der Rahmenhandlung und der dann neben der Party konventionell, aber willkürlich erzählten Geschichte ein reines regieliches Lippenbekenntnis ist. Im Video sieht man, zunächst nur angedeutet, doch im Verlaufe der Aufführung immer deutlicher, was Frau Daland zusammen mit ihrer Tochter aus dem Haus getrieben hat. Es war wohl ein Übergriff des Vaters auf die Tochter. Aber auch das ist eine bloße Behauptung, die mit Wagners Text nichts zu tun hat. Und am Ende steht Senta – gekleidet wie damals als Mädchen – umringt von einem Dutzend anderer junger Alter Egos, erlöst von ihrem Kindheitstrauma an der Rampe. Ein plakatives MeToo-Erlösungsdrama.
Die Inszenierung ist verquast und sprunghaft, eine unruhige, verwirrende Bilderflut. Es wird kräftig gegen die Vorgaben des Librettos inszeniert, mehr und mehr wird das Bühnengeschehen der pausenlosen Aufführung tumultuös. Nach und nach werden „alle im übertragenen Sinne immer mehr zu Piraten“, so Regisseur Berger im Programmheft. „Das Zivilisatorische wird mit dem Piratischen überschrieben.“ Wie Ausstatter Alexandre Corazzola erläutert: „In unserer Interpretation erzählen wir eine Art schieflaufender Coming-of-Age-Story.“ Schief gelaufen ist auch die Inszenierung, die das Publikum beim Auftreten des Regieteams vor den Vorhang denn auch mit einem Buh-Orkan quittierte.
Im Gegensatz zur Inszenierung ist die musikalische Qualität der Aufführung geradezu fulminant, wenn auch mit sängerischen Einschränkungen. Der Wiesbadener GMD Leo McFall hat einen vom ersten Takt der Ouvertüre an dramatisch zupackenden, ja stürmischen Wagner dirigiert. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden folgt ihm engagiert und klangschön. Der finnische Bariton Tommi Hakala ist ein stimmlich geradezu sensationeller Holländer. Er spielt, wie ein Gespenst als mythische Gestalt auftretend, in historischer Kleidung, trotz allem Verwirrenden um ihn herum höchst kultiviert und singt mit gutsitzender, durchschlagskräftiger, viriler Stimme, auch bewundernswerter Wortverständlichkeit. Auch der koreanische Bass Young Doo Park singt einen prachtvollen Daland. Die Münchner Sopranistin Dorothea Herbert, die an vielen Theatern von sich reden macht, hat zwar erstaunliche Spitzentöne und eindrucksvolle Kraft, aber so ganz nimmt man ihr die Partie nicht ab, was aber vor allem der Regie anzulasten ist. Sie ists schon optisch eine unglückliche Figur, pummelig, in Jeans und schlechter Frisur, schließlich mit übergestülptem Mädchenrock, der einfach lächerlich wirkt. Sowohl der irische Tenor Aaron Cawley als Erik mit großen gesangstechnischen Problemen und vielen hässlichen und forcierten Tönen, als auch die kalifornische Mezzosopranistin Ariana Lucas (Mary) als groteske Partynudel sind schlichtweg inakzeptabel. Der Steuermann von Lukas Schmidt ist vokal auch nicht gerade bezaubernd und stimmlich eine Nummer zu klein. Die von Albert Horne einstudierten Chöre begeistern, auch wenn es im letzten Akt alles Drunter und Drüber ging. Alles in allem eine Enttäuschung, szenisch zumindest, auch wenn der Dirigent alles tat, die Aufführung zu retten
Richard Wagners abgründige romantische Oper „Der fliegende Holländer“ ist die erste große Musiktheaterpremiere aus dem klassischen Repertoire, die unter der Leitung des Wiesbadener Intendantinnen-Duos Dorothea Hartmann und Beate Heine über die Bühne geht. Weiß Gott kein Erfolg auf ganzer Linie.
Dieter David Scholz, 20. Januar 2025
Der fliegende Holländer
Richard Wagner
Besuchte Vorstellung: Premiere am 19. Januar 2025
Staatstheater Wiesbaden
Musikalische Leitung: GMD Leo McFall
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden
Weitere Aufführungen: 26. Januar, 1., 5., 15. und 28. Februar, 27. März, 11. April, 11. Mai