Premiere am 5.3.2016
besuchte Aufführung: 11.3.2016
Der andere „Wozzeck“
Vor kurzem hatte die Oper „Wozzeck“ von Alban Berg in Bremen Premiere. Es gibt aber auch den „Wozzeck“ in der Vertonung von Manfred Gurlitt, der jetzt am Stadttheater Bremerhaven zu bewundern ist. Das ist ein Beispiel für gut abgestimmte Spielplangestaltung und gibt die reizvolle Möglichkeit zum direkten Vergleich.
Gurlitt war von 1914 bis 1927 in Bremen tätig, die letzten Jahre davon als Generalmusikdirektor. Sein „Wozzeck“ wurde am 22.4.1926 in Bremen uraufgeführt, nur vier Monate nach Alban Bergs Oper. Beide Werke unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Gurlitt bediente sich nicht der Zwölftontechnik – seine Musik ist in freier Atonalität, aber auch mit vielen tonalen Anteilen komponiert. Die Partien des Wozzeck und der Marie sind sehr sangbar, teilweise fast melodiös. Wie bei Alban Berg gibt es auch bei Gurlitt feste musikalische Formen (Fuge, Chaconne etc.). Gurlitt bevorzugte in der Orchesterbehandlung durchgehend einen sehr kammermusikalischen, polyphonen Klang, wobei die Besetzung von Szene zu Szene wechselt.
Er setzte seine 18 Szenen ohne Übergang nebeneinander und erzeugt so besonders krasse Stimmungs- und Farbwechsel, während bei Berg die Szenen teilweise durch symphonische Zwischenspiele verbunden werden. Gurlitt lässt erst im Epilog das volle Orchester aufrauschen. Auch die Auswahl der Szenen aus dem Text von Büchner ist unterschiedlich. Bei Gurlitt tritt der Doktor nur noch in der kurzen Spott-Szene auf, seine Experimente an Wozzeck fehlen völlig. Dafür hat er eine Trostlose Märchenerzählung eingefügt, mit der die Kinder verängstigt werden. Sie trifft das dumpfe, triste Lebensgefühl der Menschen. Bei der Uraufführung schrieb die Presse: „Erst eine spätere Zeit kann darüber entscheiden, ob hiermit bereits die Musik der Zukunft gefunden ist, ob Gurlitts Musik als genial und fortzeugend zu bewerten ist.“ In Bremen wurde dieser „Wozzeck“ von Gurlitt 1987 in einer unvergessenen Inszenierung von Arno Wüstenhöfer wieder auf die Bühne gebracht, damals mit Katherine Stone und Richard Salter.
Dass Gurlitt und sein „Wozzeck“ trotzdem weitgehend vergessen wurden, ist ein Urteil der Musikgeschichte (zu Gunsten Alban Bergs), das in dieser Eindeutigkeit jedenfalls nicht gerechtfertigt ist. Das bewies die sehr ambitionierte Produktion in Bremerhaven. Regisseur Robert Lehmeier arbeitet in seiner Inszenierung mit sehr einfachen Mitteln. Die Bremer „Wozzeck“-Aufführung (von Berg) ist da deutlich aufwändiger gestaltet. Gleichwohl gelingt Lehmeier eine mindestens ebenso spannende wie beklemmende Wirkung. Das Bühnenbild von Mathias Rümmler besteht aus Biertischen und Bänken sowie einer Deckeninstallation von Neonröhren, die bei Bedarf abgesenkt werden oder flackern. Alle Personen sind stets auf der Bühne (eine Parallele zum Bremer „Wozzeck“) und kommen zu ihren Szenen an die Rampe. In beiden Inszenierungen kommt die Drehbühne zum Einsatz – in Bremerhaven mal fast unmerklich, mal in rasanterer Fahrt.
Ein Schicksalskarussell, aus dem es kein Entrinnen gibt. Lehmeier setzt seine Akzente klug und eindringlich. Das Kind (Andrej Albrecht) von Wozzeck und Marie ist behindert, was die Bürde des Außenseiters noch verstärkt. Die Eifersucht Wozzecks wird sehr eindringlich dargestellt und durch den Spott des Hauptmann und des Doktors zur Raserei gesteigert. Am Ende, wenn Wozzeck Marie mit dem Messer getötet hat und selbst ertrunken ist, sitzen alle lethargisch an den Biertischen und halten Smily-Luftballons in der Hand. Ein eindrucksvolles Schlussbild voller Zynismus. Eindrucksvoll ist auch die (bei Berg nicht vorkommende) Szene mit der Erzählung des abgewandelten Sterntaler-Märchens, das hier allerdings ein Gleichnis für totale Hoffnungslosigkeit ist.
Mit Filippo Bettoschi stand für die Titelpartie ein Sänger zur Verfügung, der mit expressiv geführtem Bariton und mit darstellerischer Intensität alle seelischen Verwerfungen Wozzecks in jeder Nuance beklemmend verdeutlichte. Inga-Britt Andersson war eine Marie voller Lebenshunger, kokett und verzweifelt zugleich. Mit ihrem strahlkräftiger Sopran meisterte sie ihre Partie bis in die extremsten Höhen sehr souverän. Wie immer bereitete Leo Yeun-Ku Chu mit seinem fülligen Bass uneingeschränkte Freude, hier verkörperte er den Hauptmann mit satter Präsenz. Die Tenöre Tobias Haaks und Thomas Burger waren Andres und Doktor, Henryk Böhm als Tambourmajor die Karikatur eines Sexprotzes und Carolin Löffler eine aufreizende Margaret. Der von Jens Olaf Buhrow einstudierte und auch darstellerisch geforderte Chor zeigte sich seiner Aufgabe bestens gewachsen.
Für Marc Niemann am Pult des Philharmonischen Orchesters muss die Realisation dieser Oper ein Herzensbedürfnis gewesen sein: So sorgfältig und klanglich abgestuft, wie das Orchester die Feinheiten der Partitur umsetzte, blieb kein Wusch offen. Besonders die erschütternde Schlussmusik hinterließ einen tiefen Eindruck. Um sich ein umfassendes „Wozzeck“-Bild zu machen, kann nur der Besuch beider Aufführungen wärmstens empfohlen werden.
Wolfgang Denker, 14.3.2016
Fotos von Heiko Sandelmann