Besuchte Aufführung: 10.5.2015 (Premiere: 21.3.2015 in Passau)
Ein Lesbenpaar im italienischen Faschismus
Auf Shakespeares Stück „Romeo und Julia“ beruht die Oper „I Capuleti e i Montecchi“, mit der der Bellini-Zyklus des Landestheaters Niederbayern erfolgreich in eine neue Runde gegangen ist. Um es vorwegzunehmen: Die Aufführung war in jeder Beziehung nahezu vollständig gelungen und wurde am Ende zurecht mit heftigen Ovationen des Passauer Publikums bedacht. Hier hat sich wieder einmal erwiesen, dass auch die Produktionen kleiner Theater für die Rezeptionsgeschichte wichtig sein können und oft sogar besser ausfallen als diejenigen von großen Opernhäusern. Mit dieser Inszenierung hat das Landestheater nach der überzeugenden „Traviata“ von letzter Saison erneut einen bedeutenden Schritt in Richtung modernes Musiktheater getan.
Ensemble
An dieser Stelle ist auch dem Passauer Auditorium ein Lob auszusprechen, das sich gegenüber der zeitgenössischen Regiearbeit von Ultz, der auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeichnete, so aufgeschlossen gezeigt hat. Der bei diesem Stück so großen Gefahr, in bloßen Kitsch abzugleiten ist der Regisseur bravourös entgangen. Schnell wurde klar, dass es ihm nicht auf eine romantische Verklärung der Liebesgeschichte ankam, sondern auf ausgeprägten, knallharten Realismus, bei dessen Umsetzung er in erster Linie von den beiden mit enormer Spielfreude aufwartenden Protagonistinnen famos unterstützt wurde. An diesem gelungenen Nachmittag offenbarte sich aus Neue, dass Inszenierungen dann am besten sind, wenn sich eine ausgefeilte, stringente Personenregie und hervorragende schauspielerische Fähigkeiten der Sänger die Hand reichen. Dass Ultz insbesondere mit den Darstellerinnen von Giulietta und Romeo im Vorfeld intensive Probenarbeit geleistet hat, wurde rasch deutlich. Und wenn er manchmal auch den Zuschauerraum in seine Deutung einbezog, erwies sich, dass er mit den Techniken eines Bertolt Brecht trefflich umzugehen versteht. Vom technischen Standpunkt aus kann man dem Regisseur nicht das Geringste anlasten. Er versteht sein Handwerk vortrefflich.
Aber auch seine Konzeption war überzeugend. Er verortete die Handlung gekonnt im Italien der 1970er Jahre, was sich als glücklicher Einfall erwies. In dieser von Historikern als „bleierne Zeit“ bezeichneten Ära, die von mafiösen Strukturen und terroristischen linksextremen und neofaschistischen Umtrieben geprägt war, erschließt sich einem der Kern der dramatischen Handlung vielleicht sogar noch besser als in Shakespeares Verona des Jahres 1597. Die Liebe von Romeo und Giulietta, den jüngsten Mitgliedern der miteinander verfeindeten Mafia-Clans Capuleti und Montecchi, wirkt unter diesen Umständen noch unmöglicher und verbotener als im Original. Um so intensiver erscheint auch der Kampf des Paares um seine Liebe, die auch rein optisch unter einem schlechten Stern steht. Das in hellen Gelb-Braun-Tönen gehaltene Einheitsbühnenbild mit nur wenigen Requisiten, in das nach Bedarf die jeweiligen Handlungsorte wie die Machtzentrale der Mafia, Giuliettas biederes rosa Schlafzimmer, Umkleideräume und Gruft eingepasst werden, ist ausgesprochen nüchterner Natur. Von Anfang an ist ausgemachtem Pessimismus Tür und Tor geöffnet, der jeglichen Gedanken an einen glücklichen Ausgang des Geschehens von vornherein gänzlich ausschließt. Der Traum des kaum den Kinderschuhen entwachsenen Paares – Giulietta spielt sogar noch mit Puppen – von einer besseren Zukunft – versinnbildlicht durch auf einen Zwischenvorhang projizierte, von Attila Egerházi choreographierte Tanzszenen aus einer Produktion des Südböhmischen Theaters Budweis von Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“ mit Christine Pommes Mormeneo (Julia) und Zdenek Mládek (Romeo) – ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Anna Sohn (Giulietta), Romeo
Legt man dem Geschehen mit Ultz die italienischen Verhältnisse der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zugrunde, ergibt sich dafür aber noch ein weiterer Grund, der darin liegt, dass der Regisseur erst gar nicht den Versuch unternimmt, den als Hosenrolle konzipierten Romeo mit künstlichen Mitteln wie Kurzhaarschnitt oder Bart als Mann vorzuführen, sondern ihn von Anbeginn als schöne Frau mit langen, manchmal hinten zu einem Zopf verknoteten Haaren darstellt. Dass der Liebe eines homoerotisch veranlagten Paares unter den hier vorherrschenden traditionellen zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten Erfüllung beschieden sein könnte, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Die Beziehung zwischen Giulietta und Romeo indes als einseitig lesbisch zu begreifen, wäre indes zu vordergründig. Ultz bezweckt kein Plädoyer für gleichgeschlechtliche Liebe, sondern huldigt vielmehr einem universalen, allübergreifenden und vom Geschlecht unabhängigen Liebesverständnis. Auf der Liebe allgemein liegt der Fokus seiner Betrachtungen, wobei keine Äußerlichkeiten von den zwischenmenschlichen Beziehungen ablenken. Dieser Ansatzpunkt des Regisseurs ist voll und ganz aufgegangen.
Giulietta, Sabine Noack (Romeo)
Das aufgebotene Ensemble hat sich aufs Beste mit dem Konzept identifiziert und es vorzüglich umgesetzt. Es ist immer wieder erstaunlich, über was für bemerkenswerte Gesangssolisten auch die kleinen Opernhäuser verfügen. Zumindest die Sänger, die das Landestheater Niederbayern für das italienische Fach engagiert hat, brauchen sich hinter denen der großen Häuser wahrlich nicht zu verstecken. Sabine Noack gab darstellerisch einen draufgängerischen, ungestümen Romeo, dem sie mit bestens gestütztem, imposantem und tiefgründigem Mezzosopran auch stimmlich ein bravouröses Profil zu geben wusste. In nichts nach stand ihr die Giulietta von Anna Sohn, die nicht nur mit einem gut fokussierten Sopranklang, sondern auch mit wunderbaren Phrasierungen, einfühlsamer Linieführung und manchmal sehr zarter, inniger Tongebung sowie eine famosen Pianokultur stark für sich einzunehmen wusste. Einen fein fundierten, tief verankerten Bariton brachte Kyung Chun Kim für den Lorenzo mit. Übertroffen wurde er von Young Kwon, an dessen Auftritte an der Staatsoper Hannover man sich noch gerne erinnert, der mit prachtvoll italienisch geschultem, sonorem und ausdrucksintensivem Bass als Capellio eine wahre Glanzleistung erbrachte. Gegenüber seinen ansonsten durchweg vorbildlich im Körper singenden Kollegen fiel der als Tebaldo stark auf eine maskige Tongebung setzende Joska Lehtinen ab. Trefflich präsentierte sich der von Christine Strubel einstudierte Herrenchor des Landestheaters Niederbayern.
Am Pult bewies GMD Basil H. E. Coleman aufs Neue, dass ihm Bellinis Musik überaus am Herzen liegt. Er breitete sie zusammen mit der ausgezeichnet aufgelegten Niederbayerischen Philharmonie mit schwelgerischer Opulenz und spannungsreichen, lang gesponnenen Bögen klar und transparent vor den Ohren des Publikums aus. Für seine grandiose Leistung durfte er sich am Ende über große Zustimmung der begeisterten Besucher freuen.
Fazit: Eine sehr empfehlenswerte Aufführung, die dem Landestheater Niederbayern alle Ehre macht und deren Besuch dringend empfohlen wird.
Ludwig Steinbach, 12.5.2015
Die Bilder stammen von Peter Litvai