Vorstellung am 5. März 2021
„Siegfried“ in Madrid: Ständig ausverkauft!
Vom 13. Februar bis zum 14. März wurde der „Siegfried“ in der Kölner Alt-Inszenierung von Robert Carsen zu Beginn der 2000er Jahre am Teatro Real gegeben, in Weiterführung der gesamten Tetralogie seit der Saison 2018/19. Und auch die 6. Aufführung war noch bis auf den letzten Platz ausverkauft! Nun ist Madrid eine große Metropole, aber die Wagner-Begeisterung scheint doch auch hier eine ganz besondere zu sein, was die Direktion vielleicht einmal darüber nachdenken lassen könnte, nach dem „Lohengrin“ von Lukas Hemleb aus dem Jahre 2014, der noch auf die künstlerische Direktion von Gérard Mortier zurückging, wieder mal eine eigene Produktion in Angriff zu nehmen. Wie wäre es mit „Tristan und Isolde“ oder „Parsifal“? Das würde nach dem eingekauften „Ring“ sicher gut passen.
Da ich die spanische Premiere dieses „Siegfried“ ausführlich kommentiert habe (siehe unten), möchte ich mich hier nur einigen Aspekten der Inszenierung und natürlich den Sängern widmen. Wie gesagt, folgt diese „Ring“-Inszenierung zwei wesentlichen Themen bzw. Handlungs-Strängen. Einmal geht es um die Verschmutzung, ja die völlig skrupellose Vergewaltigung der Natur durch den Menschen, was man im „Siegfried“ besonders an den wahllos auf Augenhöhe abgeholzten Bäumen des eigentlichen „Waldes“ im 2. Aufzug sieht – aber auch an der maschinellen Darstellung des Riesen Fafner als Baggerklaue. Also ein Ausdruck der Crash-and-Trash-Tradition vieler „Ring“-Konzepte der letzten drei Jahrzehnte. Zum zweiten erleben wir den unerbittlich und gnadenlos geführten Kampf zwischen Wotan und Alberich – infolge des Mega-Versagens Wotans – im Streben nach Weltherrschaft und Machterhalt wider besseren Wissens durch den Versuch der Wiedergewinnung des Rings.
Was einem zunächst auffällt, ist der ausgediente Wohnwagen, in dem Mime mit Siegfried vegetiert, umgeben von allerlei Zivilisations-Gerümpel, wie alten Maschinenteilen, natürlich den leeren Munitionskisten aus der „Walküre“, aber auch einer alten und offenbar schon ausgebrannten Raketenstufe, deren Flug und sicher begrenztes Zerstörungspotential aber nie zu sehen waren… Der Wohnwagen, ja, man könnte ihn als den Vater aller Mime-Wohnwagen bezeichnen, die danach zu sehen waren und das eingeschränkte Phantasiepotential der jeweiligen Regisseure dokumentierten. Mir zumindest bekannt und erlebt sind der fast gleich, wie ausgeliehen wirkende Wohnwagen im sog. US-amerikanischen „Ring“ von Francesca Zambello in San Francisco 2011, die offenbar auch gleich den billigen Metall-Gartenstuhl davor mitkopiert hat, sowie der ominöse Blechwohnwagen der Bayreuther Produktion von Frank Castorf 2013, der fast ständig auf der Drehbühne erschien und schließlich auch noch zur Behausung von Siegfried und Brünnhilde wurde, eine zumindest praktische und wirtschaftliche Lösung. Carsen hat mit dieser Mime-Behausung also „Ring“-Geschichte geschrieben! Vielleicht erklärt das auch zum Teil ihre Langlebigkeit.
Ein anderer Aspekt, der mir besonders in Madrid musikalisch negativ auffiel, ist das auch in den meisten anderen „Ring“-Produktionen übliche nur krachmachende Herumhämmern auf dem Schwert oder dem Amboss, der in der Schreinerei meist aus Holz, Fiberglas oder Plastik gefertigt wurde. Das Ergebnis ist ein den musikalischen Genuss aus Musik und Gesang empfindlich störendes Schlaggeräusch. Ich habe nie begriffen, wie die „Ring“-Dirigenten so etwas zulassen. Warum gönnt man sich nicht einmal den kleinen Luxus, zumindest die Aufschlagfläche für den Hammer aus einem wohlklingenden Metall zu fertigen, das man sogar auch noch stimmen kann?! Dann würden die Schmiedeszenen eine ganz andere musikalische Note bekommen. Man höre sich die Aufnahme des legendären Solti-„Ring“ aus den Wiener Sofien-Sälen von 1964 an. Dann wird sofort klar, was ich meine.
Ein starkes Bild ist hingegen die 1. Szene des 3. Aufzugs, als der Wanderer zum Vorspiel sinnierend vor einem riesigen Ölgemälde aus der „Ring“-Historie sitzt und offenbar und nachvollziehbar mit der Vergangenheit hadert. Hier erhält die Inszenierung Carsens die Fallhöhe, die sie durch allzu viel Klein-Klein so oft vermissen lässt. Dazu gehört auch Wotans Spazier-„Stöckchen“, dass er allerdings nach dessen Zerbrechen in den Wohnzimmer-Kamin zum vorzeitigen Verbrennen legt und dann von dannen zieht. Ganz nachvollziehbar ist auch nicht die Zeichnung Alberichs als heruntergekommenem Alkoholiker mit drei (weitgehend leeren) Flaschen Whisky vor Neidhöhle, was der Figur jede Schärfe und Größe nimmt. Möglicherweise hat Carsen nicht daran gedacht, das gerade der Schwarzalbe Alberich im Gegensatz zum Lichtalben Wotan am Ende der „Götterdämmerung“ einer der wenigen Überlebenden sein wird…
Und, last but not least, ist die Erweckungsszene Brünnhildes bei allem Respekt für künstlerische Phantasie nicht wirklich nachvollziehbar, denn Siegfried sieht von Beginn an Brünnhilde mit offenem Gesicht vor sich liegen. Dass sie kein Mann ist, begreift er bekanntlich „nach Plan“ erst, als er den letzten Schleier gelichtet hat, der sogar noch aus Metall bestehen sollte. Was will Carsen damit sagen?! Siegfried noch naiver darstellen als er ohnehin schon ist?! Warum hört er nicht auch einmal auf die Musik Richard Wagners?!
Nun ja, lassen wir es dabei. Diese Produktion ist gewissermaßen schon zur Geschichte oder gar zum Mythos ihrer selbst geworden. Und nach so vielen Jahren trotz aller – und nur allzu oft im Stile einer Selbstzverzwergung eingebrachten – Unzulänglichkeiten ein Erfolgs-Modell!
Die Sänger habe ich in der Rezension der spanischen Premiere des Carsen-„Siegfried“ schon ausführlicher besprochen. Auch an diesem Abend begeisterte Andreas Schager in der Titelrolle das spanische Publikum wieder durch seine engagierte und charismatische Darstellung des Siegfried. Man nimmt ihm wirklich jede Geste ab, so natürlich entwickelt sie sich – manchmal möchte man meinen, ganz spontan – aus der jeweiligen Situation, und aus dem Verhältnis zu seinem jeweiligen Partner. Allein, wie er die Rolle singt, entspricht auch in etwa dieser Art der Schauspielerei – immer am Anschlag, immer on the go. Die Stimme kommt viel zu oft mit zu viel Kraftbetonung, gerät dann in den heldischen Spitzentönen auch an ihre physischen Grenzen. Es fehlt Schager eine solide tenorale Mittellage, eine stabile Gesangs- und damit auch eine gute Legato-Kultur, wie sie ein René Kolle hatte oder ein Stephen Gould immer noch hat – der nur leider den Siegfried nicht mehr singen will, es aber ohne weiteres könnte. Ich habe den Eindruck, dass die Stimme nicht wirklich in sich ruht und dies mit dem intensiven darstellerischen Engagement bis zu einem gewissen Grad übertüncht wird. Nur, im Moment befinden wir uns in einem regelrechten „Siegfried-Vakuum“. Von wirklich internationalem Standard fällt mir nur noch Stefan Vinke ein, nachdem einige andere Kollegen die Rolle in jüngerer Vergangenheit zurückgelegt haben. Vinke soll die Rolle auch in Brisbane im Herbst singen, in einer interessanten chinesischen Neuinszenierung auf australischem Boden.
Ricarda Merbeth ist bei der „Siegfried“-Brünnhilde zwar weitaus besser aufgehoben als bei der „Walküre“ oder der Isolde (Stichwort Brüssel 2019). Aber sie singt mit diesen Rollen, auch mit der Elektra, über Fach. Ständig geht das Bestreben um die erforderliche Tonproduktion zu Lasten der Diktion, ja sogar der Darstellung. Ganz anders dagegen die Mezzosopranistin Okka von der Damerau als Erda. Herrlich ihre Gesangskultur mit feinen Facetten und stets vorhandenem stimmlichem Ausdruck. Auch Andres Conrad hat mit der im Prinzip immer etwas undankbaren Rolle des Mime keine Probleme und meistert ihre Tücken mit großer tenoraler Gestaltungskraft, bisweilen sogar Andreas Schager Konkurrenz machend.
Thomasz Konieczny kommt scheinbar nie über die immer wieder hörbaren Vokalverfälschungen hinweg, ebenso wie über eine zu monotone Tongebung. Das fällt einem umso mehr auf, wenn man seine Passagen einmal mit den entsprechenden von James Morris, Theo Adam oder gar George London vergleicht. Darstellerisch ist er jedoch ein ansprechender Wanderer, allerdings etwas zu jung, was man ändern könnte in der Maske. Meines Erachtens liegt ihm der Alberich viel mehr. Martin Winkler hat zwar einen kraftvollen Bariton, aber er neigt zu ständigem Forcieren, womit es dann keine so wünschenswerten Zwischentöne gibt. Jongmin Park ist auch an diesem Abend wieder ein ganz ausgezeichneter Fafner mit einem profunden und warmen Bass. Leonor Bonilla singt einen etwas zu kräftigen Waldvogel, vor allem angesichts der bedauerlichen Tatsache, das Carsen ihn als bereits verstorben auf Siegfrieds Rucksack platziert. Aber eine kräftige Waldvogel-Stimme passt wohl auch am besten zu dieser Inszenierung. Die Rucksäcke in diesem „Siegfried“ mögen im Übrigen ähnlich wie der Wohnwagen für viele Folge-Inszenierungen Pate gestanden haben.
Auch in dieser 5. Aufführung des „Siegfried“ in Madrid konnte das Orquesta Titular del Teatro Real unter der engagierten Leitung von Pablo Heras-Casado wieder voll begeistern. Wieder strahlten die Harfen, deren sechs – wie von Wagner vorgeschrieben – in den fünf ersten Parterrelogen saßen, wieder einen ganz besonderen musikalischen Charme aus. Mit ihnen wurde die große Verwandlungsmusik zum Brünnhilde-Felsen im 3. Aufzug ein ganz besonderes, so selten zu hörenden Erlebnis, auch optisch. Auch die Blechbläser, die bis auf die Hörner und Wagnertuben in den rechten Parterrerlogen platziert waren, setzten markantere musikalische Akzente als es sonst üblich ist, wenn das gesamte Orchester im Graben sitzt. Dort hatten die Streicher und Holzbläser sowie das Schlagwerk natürlich sehr viel Platz. Heras-Casado fühlte sich mit seinen Musikern sicht- und hörbar in seinem Element, womit ich wieder zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen komme. Wenn die letzten Töne der „Götterdämmerung“ Anfang 2022 verklungen sein werden, spätestens dann sollte man hier an eine Eigenproduktion von „Tristan“ oder „Parsifal“ denken. Dann wird das so traditionsreiche Teatro Real erst recht zum spanischen Bayreuth!
Fotos 1, 2, 4, 5, 6: vom Autor; Foto 3: Javier del Real / Teatro Real
Klaus Billand /1.4.2021