Lieber Opernfreund-Freund, eine der beliebtesten Weihnachtsopern ist derzeit am Theater Aachen zu erleben: Giacomo Puccinis La Bohème wird nicht nur am 1. Weihnachtsfeiertag gespielt, sondern übernimmt auch den Spielplan am Silvesterabend. Dass es auf der Bühne so gar nicht weihnachtlich zugeht, ist der Regisseurin Blanka Rádóczy zu verdanken.
In eine Zeit, „in der es keinen Winter gibt“, verlegt die junge Ungarin die Handlung – doch das funktioniert nicht wirklich. Schon in der ersten Szene führt der Ansatz, dass alle außer der kranken Mimi permanent schwitzen, die Verbrennung von Rodolfos Drama, um die Künstler-WG aufzuwärmen, ad absurdum. Nur durch extrem freie Übersetzung in den Übertiteln wird passend gemacht, was eigentlich so gar nicht passt. Sicher ist es wichtig, auf Probleme wie Erderwärmung und Wasserknappheit hinzuweisen – aber ohne jeden Bezug zum Werk?
Mimi wird in dieser Lesart zum Fremdkörper nicht nur im Kreis der Freunde, sondern in der Welt schlechthin. Sie friert trotz der augenscheinlich brütenden Hitze mehr und mehr – und erst in ihrer Sterbeszene kehrt auch in der übrigen Welt Kälte ein: es schneit in der Wüste. Vielleicht ist das dann ja die Katharsis, um der es nach Ansicht von Rádóczy im Werk eigentlich geht, wie die im Programmheft bekennt. Der Bühnenaufbau, für den die Regisseurin zusammen mit Andrea Simeon verantwortlich zeichnet, wirkt jedenfalls recht zusammengezimmert: ein halb verfallenes Gebäude, das mit der Überschattung dienenden Brettern restauriert wurde, bildet den Rahmen für die Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Dass Kostümbildnerin Andrea Simeon, die die Protagonisten in Alltagskleidung steckt, für den zweiten Akt einfach ein paar Weihnachtspullis mitgebracht hat, von denen sich jeder mal einen nehmen durfte, ist meine bloße Vermutung. Überhaupt zeigt sich im Momus-Akt die Schwächen in der Personenführung am deutlichsten. Es fehlt schon rein optisch an jeder Fokussierung auf die Hauptprotagonisten – die mit Chor und Kinderchor und allen Beteiligten übervolle Bühne gerät zum Wimmelbild. Der von Jori Klomp betreute Chor verabschiedet sich schon vor der Pause, so dass es danach merklich leerer und auch ruhiger wird auf den Aachener Brettern. Und in den intimen Momenten im dritten und vierten Akt spielt Rádóczy dann ihre Trümpfe aus und zeigt auch vorher, das will ich nicht verhehlen, ein paar gute Ideen: beispielsweise macht sie den Vermieter von Rodolfo und seinen Freunden zu Musettas Sugar Daddy (herrlich: Pawel Lawreszuk) und deutet schon im ersten Akt eine Freundschaft zwischen Musetta und Mimi an.
Winterzeit ist Erkältungszeit und so kann die Vorstellung am vergangenen Samstag nur dank zweier Umbesetzungen und zweier beherzter Einspringer überhaupt stattfinden: Gabriele Mangione hat noch am Vorabend den Calaf in der Detmolder „Turandot“-Produktion gestemmt, doch diesen Kraftakt merkt man dem jungen Italiener keine Sekunde an. Vielmehr gestaltet er den Rodolfo mit höhensicherem Tenor, schmelzendem Timbre und auch dem einen oder anderen Schluchzer an der richtigen Stelle und spielt dazu wunderbar. Daegyun Jeong gibt derzeit in der Dortmunder „Bohème“ den Marcello und verleiht der Figur als Einspringer in Aachen mit kraftvoll-imposanten Bariton voller Seele Profil. Lala Vallés aus dem Aachener Ensemble ist eine leidenschaftliche Musetta mit Farben voller Feuer, während die Französin Camille Schnoor als Gast die Mimi nicht nur als leidende Kranke interpretiert, sondern sie als streitbare junge Frau darstellt, die für ihre Liebe kämpft. So bespielt sie mit ihrem facettenreichen Sopran die komplette Bandbreite an Nuancen, die Puccini für seine Heldin komponiert hat.
Im Graben entfacht Christopher Ward ein wahres Klangfeuerwerk, wie es dem Meister aus Lucca sicher gefallen hätte. Mit schwelgenden Bögen in den Liebesszenen und espritgeladener Freude im zweiten Akt bleibt der Aachener GMD der Bohème-Partitur und dem am Ende begeisterten Publikum nichts schuldig.
Ihr Jochen Rüth, 6. Dezember 2023
La Bohème
Giacomo Puccini
Theater Aachen
Premiere: 11. November 2023
Besuchte Vorstellung: 3. Dezember 2023
Inszenierung: Blanka Rádóczy
Musikalische Leitung: Christopher Ward
Sinfonieorchester Aachen
weitere Termine: 8., 13., 23., 25. und 31. Dezember, 7., 19. und 28. Januar sowie 9. und 11. Februar