Die Emanzipationsbemühungen der Carmen
Das Theater war ausverkauft, das Publikum feingemacht, die Stimmung voll Spannung und Erwartung, denn man hatte eine neue, eine andere ‚Carmen‘ versprochen. Und die wurde geboten. Der junge französische Dirigent Maxime Pascal, bekannt für seine innovativen Interpretationen moderner Musik, schwang auch hier den Zauberstab seines Enthusiasmus. Das Orchester klang von der ersten Note an frisch, dynamisch und mitreißend. Auch die Stimmen waren gut gewählt. Herausragend in der kleinen Rolle der Micaéla die junge irische Sopranistin Sarah Brady. Ihre Stimme ist voll und nuancenreich, besitzt Spannweite und wird präzis geführt. Kein Wunder, dass manche meinen, sie sei auf dem Weg zum Weltstar. Ihre Schlussarie wurde so innig und intensiv vorgetragen, dass sich niemand der Emotion entziehen konnte und das Publikum anerkennend applaudierte.
Auch die Carmen von Rachael Wilson gefiel. Sie hat ein durchweg dunkles Timbre, das eine reifere Frau mit Lebenserfahrung suggeriert. Wilson: Zum Singen ist ‚Carmen‘ eine unfassbar befriedigende Rolle: Sie beinhaltet so viel Sprache und Klangmalereien, auch Sprechgesang und unglaublich schöne Harmonien und Rhythmen. Das ist für das eigene Ego sehr befriedigend. Allerdings finde sie die Figur der Carmen nicht mehr zeitgemäß und relevant, da sie als überstarke Frau gezeichnet und in einem misogynen und sexistischen Umfeld gefangen sei. Die traditionell verbindlichen Frauenbilder gehörten nicht zementiert.
Diese Carmen wirkt willensstark, doch nie verführerisch. Ihre mit Strass bedeckten Phantasiekostüme lassen – scheinbar – die Innenseite ihrer Schenkel bis zum Schamteil frei, die Sexualität der Protagonistin betonend. Doch sie entpuppen sich dann als Lederteile. Wilson, die aus Las Vegas stammt, sind solche Kostüme sicher nicht unbekannt, doch verbunden mit der besonderen Frauenfigur: Madonna lässt grüßen.
Denn, und dies stellt sich erst nach und nach heraus: Carmen/Madonna gehört zu einer Zirkusgruppe. Dies ist der eine neue Erzählstrang. Der andere ist politisch. Die Figur Carmen ist zweifellos eine individualistische Frau, die sich nicht fremdbestimmen lässt. Sie wehrt sich gegen Anpassung und Unterdrückung, genau wie es seit Jahrzehnten erst die Suffragetten und dann weitere Frauenrechtlerinnen taten. Auch heute noch ist die Emanzipation nicht vollendet. So verknüpft die Regisseurin Carmens Geschichte mir der der Emanzipation. Dazu werden immer wieder Filmsequenzen eingespielt, zuerst schwarz-weiße Dokumentationen aus den USA und diversen Orten in Europa. Danach folgen Ausschnitte aus amerikanischen Serien der 1960er Jahre, in denen Frauen, dem damaligen Frauenbild entsprechend, adrett gekleidet und perfekt frisiert, immer heiter und lächelnd in der Küche werkeln und zwischendurch noch den Kindern Spielwunden verbinden. Alles sehr informativ, doch überbordend.
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hatte der polnische Opernregisseur Krzysztof Warlikowski an der Opéra de Bastille in Paris einen Lohengrin inszeniert und dort im ersten Akt eine kurze Sequenz von Roberto Rossellinis 1945 entstandenem Film Roma Città Aperta gezeigt, der die bestehende Thematik genau dokumentierte. Das Publikum raste so vor Empörung, dass der belgische Operndirektor auf die Bühne eilte, den Abbruch der Aufführung androhte, und sich in Publikumsbeschimpfungen erging.
Heute ist das anders. Der später geäusserte Unmut bezog sich auf die Häufigkeit der Einschübe und die teilweise überlagen Filmstücke. In der Pause wurde dies lebhaft diskutiert. Die vorherrschende Meinung: Sie lenkten von der Musik und dem Gesang ab. Noch etwas anderes irritiert: die häufigen Tanzszenen. Kein Ballett, sondern eher grobschlächtig vorgetragene, halb akrobatische Bewegungsabläufe von bunt gekleideten Gestalten, die man sich gut auf irgendeinem mittelalterlichen Markt vorstellen könnte.
Es sind Vorboten der Erkenntnis, dass Carmen hier keine Zigeunerin mehr ist, sondern zu einer Truppe wandernder Artisten gehört. Das Winterquartier der Zigeuner wird so zum Trainingscamp, die Stierkampfarena zum Zirkuszelt. Interessante Ideen würzen die neue Carmen, nicht immer einsehbar und durchwegs zu repetitiv. Doch sie machen diese Aufführung abwechslungsreich und halten das Publikum in Atem.
Die neue Carmen ist die erste Inszenierung einer traditionellen Oper der international tätigen Regisseurin und Choreographin Constanza Macras aus Buenos Aires mit eigener interdisziplinären Tanzkompanie DorkyPark, in der Tanz, Text, Live-Musik und Film zusammenkommen. All diese Komponenten bieten eine Vielfalt an Elementen und Vorgehensweisen, die sie in den Dienst des jeweiligen Themas stellt, hier die patriarchalischen Gesetze unserer Gesellschaft, die nicht nur in Unterdrückung, sondern auch heute noch in zahlreichen Femiziden resultieren. Sie wollte dieses Denken durchbrechen. Carmen ist, laut Cuevas, die berühmteste Oper überhaupt; jeder kennt irgendeinen Teil ihrer Musik, die sich wie Gassenhauer in unserer Kultur integriert haben. Doch diese Kultur der Frauenfeindlichkeit darf so nicht mehr kolportiert werden. So verändert sie Carmens Umfeld zu dem des Zirkus, der für sie Spektakel und Risikobereitschaft symbolisiert. Sie sieht Carmen als Freiheitskämpferin.
Wer auf gewohntes andalusisches Flair hofft, wird enttäuscht. Die Andeutung einer Tabakfabrik ist zwar da, doch die eintretenden Arbeiterinnen eine traurige braun-graue Masse. Die Soldaten davor sind keine schmucken spanische Soldaten, sondern ein Block aus schwergepanzerten und behelmten schwarzen Gestalten, wie man sie heute bei den Ordnungskräften schwerer Straßenkämpfe antrifft. Das einzig verblieben Andalusische sind die Namen der Protagonisten wie Don Josè und Carmencita.
Das am leidenschaftlichsten diskutierte neue Puzzleteil allerdings waren die Szenen und Einschübe in englischer Sprache. Sogar an der Tramhaltestelle nach der Oper wurde noch drüber gestritten. Um die beiden Stränge, einmal die Oper ‚Carmen‘ und dann die Emanzipationsbewegung, auf die Länge des ganzen Werks irgendwie zu verknüpfen, wurden Anpassungen in Form von Szenen und Schriften vorgenommen. Beides auf Englisch. Das gehe nun gar und überhaupt nicht, wurde geschimpft. Hätte man dies wenigstens auf Französisch (wie die Opernsprache) gemacht. Andere beschwichtigten. Die Sprachänderung hat hier den Effekt einer Brecht’schen Verfremdung und ist insofern wirklich sinnvoll. Es wird markiert, dass etwas zur Oper hinzugefügt wurde. Doch die Puristen waren nicht zu besänftigen.
Diese Carmen-Inszenierung war auf jeden Fall ein Erfolg. Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde jeden Moment gefordert. Und dann: Wann gab es zuletzt so einen Aufruhr im Publikum? So intensive Diskussionen?
Dagmar Wacker, 6. Februar 2024
Carmen
Georges Bizet
Theater Basel
Premiere am 3. Februar 2024
Regisseurin und Choreographin: Constanza Macras
Musikalische Leitung: Maxime Pascal
Sinfonieorchester Basel