Bielefeld: „Hoffmanns Erzählungen“, Jacques Offenbach

Mit Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen bzw. Les Contes d‘Hoffmann, da auf Französisch gesungen wird, steht eine „Phantastische Oper“ auf dem Spielplan des Theater Bielefeld, die phantastisch gesungen, musiziert und gespielt wird. Der Dichter E. T. A. Hoffmann verarbeitete in seinen Geschichten autobiographische Erlebnisse. Er schätzte die Freuden des Lebens, nämlich aus seiner Sicht Frauen und Alkohol, kennt sich als Beamter mit Intrigen jeglicher Art aus ebenso wie mit der Kunstszene, ist alkoholabhängig und auch deshalb ständig unter Armut leidend. Seine Erzählungen spiegeln den Wahnsinn, die tiefe Verzweiflung und das Eifern nach Kreativität, Erfolg und Liebe des Autors. Drei dieser Geschichten haben Offenbach und seinen Librettisten Jules Barbier, die ähnliche Erfahrungen machten, zu der Oper inspiriert. Doch Offenbach starb vor Vollendung der Komposition; zwar waren größtenteils die Gesangsstimmen und der Klavierpart vorhanden, aber nur wenig Orchestrierung. Im Laufe der Jahrzehnte bis 2004 fand sich immer mehr Material, mit dem Aufführungsfassungen mit drei verschiedenen Finali erstellt wurden. Hier wird die jüngste Fassung von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck gegeben. Die Vielfältigkeit der verwendeten Musikstile, denn Offenbach zeigt hier sein ganzes Repertoire an musiktheatralischen Formen dar, stellt Dirigent und Regisseur vor ungewohnte Herausforderungen.

© Bettina Stöß

In der Inszenierung von Wolfgang Nägele werden die drei Geschichten bildmächtig dargeboten. Doch zunächst sehen wir den Dichter nach Hause in seine kleine Küche in der ersten Etage kommen, mit der Fernbedienung den Fernseher anmachen, den Kühlschrank öffnen, aus dem ein Arm ihm eine Bierflasche reicht und der zum Arm der Muse Nicklausse gehört, die aus dem Kühlschrank krabbelt. Mit ungewöhnlichen Auftritten darf man also rechnen. Während des ersten Aktes bleiben dort der Dichter und seine Muse, die ähnlich wie er gekleidet ist, also sein alter ego zu sein scheint. Die Wände schmücken Fotos und ein Poster von Hoffmanns sehnsüchtig angehimmelter Frau, der Sängerin Stella. Wirt Luther und seine Gäste bleiben in dunkle Mäntel und Hüte gekleidet unten auf der leeren, dunklen Bühne und bewegen sich pantomimisch passend zur Ballade von Klein-Zack. Ist diese womöglich eine Karikatur auf Lindorff, der sich selbst als unansehnlich beschreibt? In der Bielefelder Inszenierung jedenfalls nicht, denn dort gleicht der Gegenspieler Hoffmanns einem Gangster, der durchgehend lange Haare, orangenes Muscleshirt, rote Hosen und eine braune Lederjacke trägt. Die Küche bleibt die ganzen fünf Akte über sichtbar; sie wird von Prospekten umrahmt oder auf der Bühne umplatziert. Denn in ihr erlebt Hoffmann traumhaft seine unglücklichen Affären, zu deren Nacherleben er sich auf die Bühne begibt. Die Auftritte Hoffmanns werden von Nicklasse mit einem Camcorder festgehalten. Das Geschehen lässt sich also gegen Ende des vorigen Jahrtausends ansiedeln, wobei die Kostüme des Chores eher in dessen Mitte passen.

Der Olympiaakt spielt in einem Theaterfoyer und ist selbst großes Theater. Stella erscheint persönlich, damit an ihr Maß genommen werden kann, um aus fertigen Schaufensterpuppenteilen ein Abbild, nämlich Olympia, von ihr produzieren zu können. Dumitru-Bogdan Sandu als Spalanzani und Lorin Wey als Cochenille liefern virtuos schauspielerische, gar artistische Slapstickeinlagen ab, die man von Opernsängern kaum erwartet. Wie Sandu die Eitelkeit und das übersteigerte Selbstbewusstsein Spalanzanis spielt, hat große Klasse. Hübsch ist die Idee, Hoffmann und Olympia während ihres kurzen Duetts auf zwei Theater-Klappsitzen etwas in die Höhe zu heben. Doch am Ende des Aktes wird Olympia vom Bösewicht, der hier Coppélius heißt, zerstört, weil ein Scheck, den er von Spalanzani erhielt, nicht gedeckt ist.

Der Antonia-Akt bleibt merkwürdig blass. Der Bühnenraum wird nach hinten von einem blassgrünen Samtvorhang begrenzt, unter dem die Akteure hervorkriechen und wieder verschwinden. Lediglich Antonia ist in einem Flügel zu Hause, und selten passt dieser Einfall so gut wie hier, wo Antonia doch eigentlich in der Musik und für die Musik lebt. Aber dass der Bösewicht in seinem Gaunerkostüm den Doktor Mirakel darstellen soll, wirkt doch unglaubwürdig. Und der leibhaftige Auftritt von Antonias Mutter oben in Hoffmanns Küche (wo Nicklausse sich ab dem Auftritt des „Arztes“ aufhält) statt von Mirakel in Antonias Wahnvorstellung herbeigerufen (die Rolle heißt ja nicht umsonst „Stimme der Mutter“) irritiert auch. Andererseits darf Lorin Wey als Franz erneut artistisch brillieren, auch vokalartistisch.

© Bettina Stöß

Der Venedig-Akt zeigt eine kaputte Gesellschaft, die sich mit Waterbucket-Challenges und Russisch Roulette amüsiert. Der Bühnenhintergrund ist die Rückseite des Theaterprospekts aus dem zweiten Akt, und vorne liegt ein großer Kopf von Stella, aus dessen Halsansatz zunächst Dichter und Muse und später Bösewicht Dapertutto kriechen. Der abgeschlagene Kopf symbolisiert, dass der Dichter seine Liebesgeschichten eigentlich beendet hat. Doch noch einmal lässt er sich von Giulietta verführen, damit sie ihm seinen Schatten stehlen kann. Damit das möglich wird, muss Nicklausse der Camcorder entwendet werden.

Am Ende sitzt der Dichter von Nicklausse verlassen in seiner Küche, filmt sich selbst beim Beenden der Ballade von Klein-Zach, versucht zu schreiben und setzt sich angesichts des leeren Kühlschranks eine Pistole an die Schläfe, wobei das Licht erlischt. Nicklausse stellt zuvor fest, dass alle drei erzählten Frauenfiguren nur eine sind, nämlich Stella. Dazu passt aber nicht das ein auf das ganze Prospekt projizierte Video der singenden Antonia. Andererseits ist es nur Antonia, mit der Hoffmann eine einigermaßen ehrliche Beziehung eingegangen ist, während er in Olympia nur wegen der Wunderaugen des Coppélius vernarrt ist und Giulietta eher unfreiwillig in die Arme sinkt. Zu kurz kommt die erfolgreiche Eroberung Stellas durch Lindorff. Jedenfalls besingen abschließend in einem der drei möglichen Finali Antonia (Sopran), Muse (Mezzo), Frank (Tenor) und Bösewicht (Bass) zusammen mit dem Herrenchor die Vielfalt der Liebe, die im Traum vorkommen kann.

© Bettina Stöß

Bemerkenswert ist die überzeugende Besetzung sämtlicher Rollen mit Ensemblemitgliedern des Bielefelder Theaters. Dies ist sicherlich ein Verdienst der Operndirektorin und jetzigen (noch gemeinsam mit Michael Heicks) Intendantin Nadja Loschky. Nenad Čiča als Hoffmann musste krankheitsbedingt durch den kurzfristigen Einspringer Matthew Vickers ersetzt werden. Der bewältigte die Aufgabe mit Bravour. Sein Tenor besticht durch in allen Lagen elegante, klar fokussierte Stimme bei gleichzeitiger Leidenschaft. So kann er, der über die ideale Stimme für das französische wie auch eher lyrische italienische Fach verfügt, den Wahnsinn und die Verzweiflung Hoffmanns ausdrucksvoll darstellen. Erklärtermaßen ist Hoffmann eine seiner Lieblingsrollen, die er zuletzt in seinem Stammhaus Staatstheater Darmstadt gesungen hat. Mit warmem Mezzo, gut verständlichem Parlando und jugendlicher Ausstrahlung steht ihm Marta Wryk als seine Muse Nicklausse beziehungsweise hier als seine zweite Identität passend zur Seite. In den drei Frauenrollen treten Dušica Bijelić als Stella und Antonia, Veronica Lee als Olympia und Alexandra Ionis als Giulietta und Mutter auf; alle drei schwarzhaarig und grün gewandet wie die Puppe, die Hoffmann in seiner Küche hat. Bijelić singt gefühlvoll mit rundem, fließendem, aufblühendem Sopran. Lee kann mit perfekt sitzenden sicheren Koloraturen glänzen, ohne eine nur leichte Stimme zu haben. Ionis lässt ihren Alt volltönend und verführerisch strömen. Evgueniy Alexiev ist mit seinem nicht kräftigem, aber markantem und dämonisch klingendem Bass die Idealbesetzung für die vier Bösewichte. Yoshiaki Kimura gestaltet als Crespeldie Verzweiflung über das Schicksal seiner Tochternachvollziehbar; auch den Luther singt er. Dumitru-Bogdan Sandu und Lorin Wey wurden oben bereits für ihre schauspielerische Leistung gelobt, können aber auch stimmlich überzeugen. Auch die kleineren Rollen, zum Teil mit Mitgliedern des Herrenchores besetzt, waren stimmlich präsent. Der nicht nur vokal, sondern auch darstellerisch geforderte Chor erledigte seine Aufgaben tadellos. Kapellmeister Gregor Rot brachte mit den vom scheidenden Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic bestens präparierten Bielefelder Philharmonikern alle Facetten der Partitur von Leichtigkeit über Eleganz bis zum großem Opernexpressivo zum Klingen. Es ist also eine von der Regie her interessante und musikalisch meisterliche Produktion des deutsch-französischen Meisterwerkes.

Bernhard Stoelzel, 31. März 2025


Hoffmanns Erzählungen
Jacques Offenbach

Theater Bielefeld

Vorstellung am 30. März 2025
Premiere: 15. Februar 2025

Inszenierung: Wolfgang Nägele
Musikalische Leitung: Gregor Rot
Bielefelder Philharmoniker

Folgevorstellungen: 6. April, 4. Mai, 11. Mai, 9. Juni 2025