besuchte Vorstellung 23. November 2016
Französischer Dauerbrenner neu betrachtet
1875 wurde die Carmen bei der Pariser Uraufführung abgelehnt. Das lag zum einen an der Komposition selbst, des Weiteren aber auch, dass diese Oper an den gesellschaftlichen Grundfesten des Bürgertums rüttelte. Carmen ist sicherlich nicht die erste (Teilzeit)prostituierte auf der Bühne, aber noch nie zuvor wurde eine Frau, die so selbstbestimmt ihr Leben meistert, gezeigt. Carmen ist eine Fremde, eine Ausgeschlossene. Und sie schert sich nicht darum, was die Menschheit von ihr denkt.
Heute, im Zeitalter von Feminismus, RTL Reality Shows und Youporn, schockiert das niemand mehr, damals war es ein Skandal.
In der mehr als hundertjährigen Rezeptionsgeschichte wurde eben diese emanzipierte Frau mehr oder weniger auf Postkarten oder Reisekatalogniveau gepresst.
Roman Hovenbitzer transferiert die Oper nicht ins hier und heute, seine Ausstatterin Anna Siegrot hat auf der Bühne einen sandigen Kreis geschaffen, eine Arena aber auch ein Dorfplatz auf dem die alltäglichen Kämpfe ausgetragen werden. Begrenzt durch Stühle in den verschiedensten Erhaltungsstufen und einem Schrank, einem Zauberkasten, der die unterschiedlichen Spielorte ermöglicht.
Hof zeigt die Carmen als Opera Comique mit erweitertem Personal
Der Tod ist allgegenwärtig, die Außenseiter der Gesellschaft, die Underdogs, genau wie die Soldaten aber auch der Stierkämpfer leben stets in einer lebensbedrohlichen Situation. Ein allgegenwärtiger Gitarrist symbolisiert den Tod, er ist die erste Erweiterung des Personals auf der Bühne.
Um den Charakter Don Joses besser zu verdeutlichen fügt Roman Hovenbitzer dessen Mutter ein. Jose steht zwischen drei Frauen, die klassische Triangel des Frauenbildes im 19.Jahrhundert. Mutter, Heilige und Hure. Und wenn Carmen der Dämon ist, dann ist Micaela die Heilige. Aber wer ist Jose? Im Libretto steht nur, dass er Soldat ist und aus einer anderen Stadt kommt. In der Romanvorlage erfährt man dann mehr. Joses Vater starb früh, er sollte Priester werden, musste aber nach einer tätlichen Auseinandersetzung fliehen. Ein Junge der unter dem Einfluss seiner dominanten Mutter groß wurde und den Lebenstraum seiner Mutter nicht erfüllen konnte. Nun soll er Plan B erfüllen, die Ehe zwischen Micaela und ihm. Diese ehe würde ihm auch einen Wiedereinritt ins Bürgertum ermöglichen. Aber es kommt anders, er trifft auf Carmen. Langläufig als die femme fatale bekannt. Roman Hovenbitzer zeigt eine andere Carmen, sie ist in Hof nicht die große Verführerin, sie ist eine Libertine, eine Freidenkerin, eine Frau mit Wirkung auf die Männer und keine die ihre Reize einsetzen muss. Sie ist eine wirklich emanzipierte Frau, eine femme revoltée.
Und Jose kommt aus diesem Teufelskreis Mutterliebe, Pflicht und Begehren nicht mehr heraus.
Um das soziale Umfeld Carmens zu verdeutlichen bringt Hovenbitzer Lillas Pastia auf die Bühne. Aus dem Schankwirt wird bei ihm eine veritable Puffmutter, Erzkomödiantin Marianne Lang gibt dieser zweifelhaften Erscheinung ein glaubwürdiges Bild. Auch Frasquita und Mercédès lassen keine Zweifel an ihrer Profession aufkommen.
Aber auch Escamillo ist nicht mehr der strahlende Held, eher einer, der schon einige Kämpfe und ein Auge verloren hat und sich mehr auf seinen verblassenden Ruhm verlässt.
Der Tod Carmens ist unausweichlich, wahrscheinlich ahnt sie schon zu Beginn der Oper, dass sie deren Ende nicht mehr erleben wird. Der Konflikt, den sie im Finale mit Jose bestreiten muss, dieses letzte Aufgebehren gegen Jose, gegen die Ehe und vor allem gegen jede Bürgerlichkeit führt letztendlich zum Todesstoß von Jose, oder ist es doch ein geplanter Selbstmord?
Ich bin kein Freund von massiven Eingriffen in die Partitur, wenn es allerdings so geschickt gemacht ist wie bei dieser Carmen, bin ich zufrieden. Arn Goerke und Roman Hovenbitzer verzichten auf den Kinderchor im ersten Akt, eine mehr als lässliche Sünde, der wesentlich größere Eingriff besteht darin, dass viele der Superhits dieser Oper, durch einen Gitarristen anstimmen zu lassen. Der Opernpurist wird jetzt in Schnappatmung geraten, aber er sei beruhigt, es ist eine geniale Lösung, die hervorragend in das Konzept der opera comique passt.
Es überrascht nicht, dass die Hofer Symphoniker einen ausladenden Klangteppich ausrollen, auf dem sich die Sänger und das Ballett ausleben können.
Der Chor unter Hsin-Chien Fröhlich besticht durch Klangfülle und Spielfreude.
Seit Jahren Publikumslieblinge Karsten Jesgarz und Thilo Andersson geben hier die absoluten Unsympathen der Oper, Remandado und Dancaïro, zwei schmierige Hartgeldluden mit überzeugenden Stimmen. Ihre Pferdchen Frasquita und Mercédès werden von Ani Taniguchi uns Stefanie Rhaue mit aggressiver Erotik in Spiel und Klang portraitiert.
Karen Frankensteins Micaëla steht im krassen Gegensatz zu den Personen der Halbwelt. Ein biederes Bürgermädchen, das durchaus zu kämpfen weiß. Sanfte Lyrismen unterstreichen ihre Rolle, ihr gezielt gesetztes Spiel tut sein Übriges.
James Tolksdorfs warmer Bariton gibt Escamillo gesunde Virilität und Strahlkraft. Der zweite Bewerber um Carmens Gunst ist Joel Montero. Sein José ist ein in sich zerrissene Figur. Einerseits Mitglied der Machogesellschaft, auf der anderen Seite ein Muttersöhnchen, dass sich dem Einfluss seiner Familie nicht entziehen kann. Diese Differenz der Seele schlägt sich auch in seiner Stimme nieder. Zwischen kraftvollen Machismo und zarten Lyrismen changiert sein angenehmer Tenor, der sich wunderbar zu Cordelia Katharina Weils Carmen gesellt. Diese Carmen bietet auch stimmlich eine neue Facette. Sie ist keine edle Dame wie Jessey Norman, aber keine ordinäre Schlampe wie in der Interpretation der Callas. Hovenbitzer und Goerke gestatten ihr, szenisch wie stimmlich, eine neue Art der Gestaltung. Perfekt intoniert strahlt sie ein Desinteresse an den Herren der Schöpfung aus. Und genau das birgt den unwiderstehlichen Reiz an dieser Figur, dieser Unnahbarkeit der Person.
Nicht unerwähnt bleiben soll das Ballett des Theater Hof, dass von Stephan Brauer auf das Beste trainiert wurde. Zwischen traditionell angelehnten spanischen Tänzen, bis hin zu expressiven Szenen während einer Prozession unterstrichen sie die Intuition dieser mustergültigen Inszenierung.
Ein lieber Freund von mir prägte mal den Satz, dass bei einer Oper „das Gesamtpaket“ stimmen müsste. Nun, ich bin mir sicher, dass er bei dieser Carmen besonders glücklich wäre. Ich, für meinen Teil, fand meine durchaus hohen Erwartungen deutlich übertroffen.
Das Theater Hof ist immer ein Garant für erstklassische musikalische Qualität, und bei dieser sehr „unklassischen“ Inszenierung wurde auch mal wieder gezeigt wie schön und wie verständlich Regietheater sein kann, wenn ein Könner wie Roman Hovenbitzer die Leitung hat.
Bilder von H. Dietz Fotografie, Hof
Alexander Hauer 27.11.16