Mit der Bilanz zu den drei Pariser Häusern haben wir die Reihe der Rückblicke mit regionalen Schwerpunkten eröffnet. Heute blicken wir im hohen Norden auf das Schleswig-Holsteinische Landestheater Flensburg und Rendsburg sowie das Theater Kiel (mit einem Blick darüber hinaus).


Beste Produktion (Gesamtleistung):
Dead Man Walking bietet ein starkes Sujet, das in einer eindringlichen Regie (Felix Seiler) von den Sängern intensiv und ergreifend umgesetzt wurde. Gesanglich blieb kein Wunsch offen. Ein packender Opernabend, der zum Nachdenken anregt.
Größte Enttäuschung:
Ein Tanzpalast – Eine getanzte Zeitreise durch 125 Jahre deutsche Geschichte klang zunächst vielversprechend. Doch warum diese in zusammenhanglos aneinandergereihten Szenen ohne Dialoge stattfinden musste und warum das Schauspielensemble, dessen tänzerisches Niveau sehr unterschiedlich ausfällt, einen solchen Abend bestreiten sollte – bleibt mir bis heute ein Rätsel.
Entdeckung des Jahres:
Kurt Weills Ein Hauch von Venus ist nach den frühen Erfolgen am Broadway heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Umso erfreulicher war die äußerst kurzweilig Inszenierung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater – für mich die Entdeckung der Saison, nicht zuletzt, weil sie bewies, dass auch in Flensburg Ballett und Musiktheater zusammenarbeiten und sich gegenseitig beflügeln können. In der Saison 2025/26 wird es eine Wiederaufnahme geben.
Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
Anna Grycan überzeugte in zwei kontrastreichen Hosenrollen: als Hänsel in Hänsel und Gretel und als Prinz Orlofsky in Die Fledermaus. Als Hänsel zeigte sie ein feines Gespür für kindliche Unbekümmertheit, verbunden mit berührender Ausdruckskraft. Besonders eindrucksvoll gelang das klangliche Zusammenspiel mit ihrer Bühnenpartnerin – ihr heller Mezzosopran verschmolz im Duett mit ihrer Kollegin zu einer warmen, homogenen Einheit, die das Publikum unmittelbar erreichte. Ganz anders gestaltete sie die Figur des Prinzen Orlofsky: Mit aristokratischer Lässigkeit, trockenem Witz und vokaler Präzision wurde ihr Auftritt zu einem Höhepunkt der Operette. Grycan vereint stimmliche Eleganz mit darstellerischer Präsenz und natürlichem Charisma. Die junge Sängerin verfügt über eine gehörige Portion Star-Potenzial.
Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Mikołaj Bońkowski als George Benton und Prison Guard 1 in Dead Man Walking beeindruckte mit voluminöser Stimme und starker Bühnenpräsenz und setzte diesen beiden Charakteren seinen Stempel auf.
Nachwuchssänger des Jahres:
Angesichts der Vielzahl junger Talente am Flensburger Haus ließe sich fast das gesamte Ensemble nennen.
Bestes Dirigat:
Sergi Roca Bru bei der Premiere von Tschaikowskys Dornröschen am 2. November 2024. Akustisch wähnte ich mich an diesem Abend in St. Petersburg.
Beste Regie:
Hendrik Müller brachte die Musical Comedy Ein Hauch von Venus mit stilvoller Eleganz und feinem Gespür für Timing auf die Bühne. Die unterhaltsame Inszenierung machte gleichsam erfahrbar, wie unter dem Glamour der 1940’er Jahre auch die Verdrängung von allgegenwärtigen Krisen liegt. Müller gelang ein vielschichtiges Bühnenereignis mit liebevoll gezeichneten Figuren.
Bestes Bühnenbild:
Der Freischütz in Kiel in der Regie und im Bühnenbild von Jean-Romain Vesperini. Mit wenigen realen Requisiten, aber umso mehr visueller Technik und Licht erschuf Vesperini eine dichte Wald-Albtraum-Atmosphäre. Emotional und psychologisch verdichtet zeigt er den Freischütz in diesem Bühnenbild als inneren, traumatischen Zustand.
Größtes Ärgernis:
Bei uns im Norden sind mir im vergangenen Jahr keine Ärgernisse widerfahren. Ist ja nicht schlimm. Oder sind wir Nordlichter einfach nur zu entspannt? Zum Thema Hausverwaltung könnte ich hier aber einiges aufzählen.…
Beste Tanzleistung:
Das größte Ausrufezeichen setzte Perla Gallo als Aurora in Dornröschen in Flensburg. Ihre zarte, zugleich tief empfundene Interpretation hinterließ einen bleibenden Eindruck.
Beste Schauspielproduktion:
Barcelona im Londoner Duke of York’s Theatre war ein fesselndes Erlebnis. Dass Lily Collins (bekannt aus der Netflix-Serie Emily in Paris) auch eine begnadete Bühnenschauspielerin ist, hätte ich nicht erwartet. Ihr Partner Álvaro Morte stand ihr in nichts nach und gab sich auch nach der Vorstellung noch sehr nahbar und umgänglich.
Auf Abwegen:
Ich bin gerne auch mal „auf Abwegen“ unterwegs – und dabei begeistert von der Show Vegas Rouge in Berlin. Deren Moderation ist zwar eher platt, doch die artistischen Acts bewegen sich künstlerisch auf höchstem Niveau. Die Mischung aus sinnlicher Ästhetik und akrobatischer Exzellenz macht die Show für mich zu einem echten Highlight, welches ich im August ein zweites Mal besuchen möchte. Auch wenn der Pressesprecher der Meinung ist, die noch bis zum 10. September laufende Show passe nicht in unseren redaktionellen Kontext, erwähne ich sie an dieser Stelle gern. Immerhin gibt es sogar eine Sequenz mit Spitzentanz – und das Schlussbild könnte ebenso gut einer stimmungsvollen Venusberg-Szene aus Tannhäuser entstammen.
Die Bilanz zog Marc Rohde.