Kiel und Flensburg: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2023/24“

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.

Wir beginnen im hohen Norden mit dem Theater Flensburg und dem Theater Kiel.


Beste Produktion (Gesamtleistung):
Traviata geht immer. Neben der Sopranistin Małgorzata Rocławska als Violetta überzeugten auch Dritan Agoni als Alfredo und Martynas Stakionis am Pult des Schleswig-Holsteinischen Sinfonieorchesters am Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Flensburg.

Größte Enttäuschung:
Dass ich die Veranstaltung Wagner zu Dritt mit Klaus Florian Vogt und Harald Schmidt in Flensburg nicht besuchen konnte, weil ich zu dieser Zeit in Montenegro war.

Entdeckung des Jahres:
Buddenbrooks von Ludger Vollmer als Uraufführung am Theater Kiel. Die historische Vorlage wurde mit aktuellen Themen vermischt und hat in meinen Augen somit eine unmittelbare Relevanz.

Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
Ensemblemitglied Małgorzata Rocławska als Violetta in der Flensburger Traviata, weil sie als Zweitbesetzung eine furiose Leistung abgegeben hat, die auch im Vergleich zu Rollenportraits diverser Stars an bekannteren Opernhäusern problemlos mithalten konnte.

Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Małgorzata Rocławska als 2nd Niece in Peter Grimes, weil sie in ihrer neckischen Art wahrhaftig die Attraktion in Auntie’s Gasthauses verkörperte, ohne dabei zu plump oder gar obszön zu wirken. Obwohl ich den Namen dieser Sängerin nun zum dritten Mal in dieser Bilanz nenne, würde ich mich nicht als Fan von ihr bezeichnen. Das kann aber noch werden.

Nachwuchssänger des Jahres:
Der Tenor Robin Neck, der am Schleswig-Holsteinischen Landestheater als Vandergold in Der arme Jonathan und Bob Boles in Peter Grimes gastierte. Insbesondere begeistert mich seine in acht Sprachen gesungene im Februar bei hänssler Classic erschienene CD Made in Europe.

Bestes Dirigat:
Sergi Roca Bru in Der arme Jonathan am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, weil der katalanische Dirigent die von Dramaturgin Susanne von Tobien in einem Coburger Archiv aufgespähte handgeschriebene Originalpartitur und das dort vorhandene Stimmenmaterial vor der Einstudierung in mühsamer Detailarbeit korrigierte und für heutige Musikeraugen neu hat schreiben lassen. Entsprechend eins war er beim Dirigieren mir dieser neu entstandenen Partitur.

Beste Regie:
Das Abschiedswerk der scheidenden Flensburger Operndirektorin Kornelia Repschläger: Peter Grimes. Die getanzten „Sea Interludes“, in denen Balletttänzer das Schicksal von Grimes und dessen Lehrjungen verkörperten, gaben der Inszenierung dabei eine ganz besondere Note.

Bestes Bühnenbild:
Rifail Ajdarpasics Bühnenbild zu Johan Peter Emilius Hartmanns Oper Ravnen, welches an die melancholisch wirkenden Gemälde leerer Wohnungen des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi erinnerte. Diese auf Dänisch gesungene Produktion der Jyske Opera Aarhus gastierte auf Einladung der dänischen Minderheit im Deutschen Haus in Flensburg.

Beste Chorleistung:
Der Chor und Extrachor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters unter der Leitung von Avishay Shalom in Peter Grimes, weil der Chor in dieser Oper als Dorfgesellschaft eine tragende Rolle spielt und mich musikalisch wunschlos glücklich gemacht hat.

Bestes Konzert mit Vokalmusik:
Auf Flügeln des Gesangs mit der als Dornacher Kundry gefeierten Ivonne Fuchs und KMD Michael Mages an der außergewöhnlichen Orgel der Flensburger St. Nikolai Kirche. Während draußen der lebhafte Wochenmarkt stattfand, berührten die beiden Künstler ihr Publikum zu Tränen. 

Fremdgeh-Erlebnis des Jahres:
Die Nacht vor Weihnachten an der Oper Frankfurt. Schon die Fotos der Premiere weckten nach einer Corona-bedingten Phase der Lustlosigkeit im Winter 2021 wieder meine Lust auf Oper und im vergangenen Dezember durfte ich diese zauberhafte Produktion dann endlich persönlich erleben.

Größtes Ärgernis:
Ich darf mit großer Dankbarkeit sagen, dass ich mich über nichts ärgern musste, außer vielleicht über besonders unruhiges Publikum beim Recital von Olga Scheps im Stadttheater Flensburg.


Die Bilanz zog Marc Rohde.