Mieczysław Weinbergs Die Passagierin, am 21. Juni 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt, hat sich in den letzten 15 Jahren einen festen Platz im Opernrepertoire erobert. Obwohl die Oper bereits um 1968 vollendet wurde und eine konzertante Uraufführung 2006 in Moskau stattfand, setzte der große Erfolg erst in den letzten Jahren ein, in denen das Werk auf zahlreichen Spielplänen auch großer Opernhäuser in Europa zu finden war. In diesen Tagen feiert das Theater Krefeld und Mönchengladbach ein großes Jubiläum mit dem 75-jährigen Bestehen der ältesten Theaterehe Deutschlands, aus dessen Anlass Weinbergs Oper als besondere Jubiläumsproduktion am 19. April 2025 in Krefeld seine Erstaufführung am Niederrheinischen Gemeinschaftstheater feierte. Damit ist man das elfte Theater in Deutschland, das das Werk auf die Bühne bringt. Bemerkenswert hierbei, dass man 15 von 16 Gesangspartien aus dem eigenen Musiktheater-Ensemble bzw. aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des angeschlossenen Opernstudio Niederrhein trefflich besetzen kann.

Doch zunächst kurz zum Inhalt: Ende der 1950er Jahre, rund 15 Jahre nach Kriegsende, befinden sich Lisa und ihr Mann Walter auf einer Transatlantikreise nach Brasilien, wo Walter als bundesdeutscher Diplomat arbeiten soll. Auf dem Schiff glaubt Lisa, die als KZ-Aufseherin in Auschwitz gearbeitet hat, in einer anderen Passagierin die polnische Häftlingsfrau Marta zu erkennen. Dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit brechen über Lisa herein, die Walter schließlich ihr jahrelang verschwiegenes Geheimnis anvertraut. Walter ist entsetzt und fürchtet um seine Karriere als Diplomat. Im Folgenden wechseln sich in der Oper zwei Zeitebenen ab: Neben der Rahmenhandlung auf dem Schiff erzählen Rückblenden von den schrecklichen Ereignissen im Konzentrationslager Auschwitz in den Jahren 1943/44, beides aus der Perspektive Lisas.
Dass dieser Abend zu einer wahrhaft emotionalen Reise in die Vergangenheit wird, hat mehrere Gründe. Zum einen basiert die Oper auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Zofia Posmysz, die als KZ-Überlebende beklemmende Schilderungen der unmenschlichen Verbrechen der Nationalsozialisten niedergeschrieben hat. Obwohl die Handlung der Oper fiktiv ist, haben die beiden Hauptpersonen reale Vorbilder. Marta war im Lager eine enge Freundin von Zofia. Die Figur der Lisa ist der KZ-Aufseherin Anneliese Franz nachempfunden, die nach dem Krieg untertauchte und so einer Anklage entging. Zu dieser Geschichte hat Weinberg, der als polnisch-jüdischer Komponist den größten Teil seines Lebens im sowjetischen Exil verbringen musste, eine eindringliche und doch recht melodische Musik komponiert. Dabei webt er immer wieder geschickt musikalische Bezüge in seine Oper ein. In Lisas Gespräch mit Walter sagt dieser beispielsweise, dass jeder das Recht habe, den Krieg zu vergessen. Dazu erklingt aus dem Orchestergraben Schuberts Militärmarsch in einer leicht abgewandelten Version. Ein zweites Beispiel: Während die drei SS-Männer von schrecklichen Dingen erzählen, hört man musikalisch das Kinderlied „O, du lieber Augustin“, das im Original mit dem treffenden Zitat „Alles ist hin!“ an dieser Stelle die Handlung kommentiert.

Großen Anteil am Erfolg dieser Produktion hat die israelische Regisseurin Dedi Baron, die am Theater Krefeld-Mönchengladbach bisher ausschließlich in der Schauspielsparte tätig war. Ihre gemeinsam mit der Ausstatterin Kirsten Dephoff (Bühnenbild und Kostüme) entwickelte Erzählung spielt ausschließlich auf dem Schiff. Dabei verzichtet das äußerst treffsichere Bühnenbild bewusst auf jeglichen KZ-Realismus, setzt aber mit hohen rostigen Wänden, diversen Überwachungskameras und an der Rückwand befestigten Duschen starke Akzente. Auch die Berge von aufgestapelten Schuhen gehören zu den beklemmenden Details des Bühnenbildes. Die Rückblicke in die Vergangenheit werden dem Zuschauer in Krefeld als Erinnerungen von Lisa gezeigt, in denen sich beide Zeiten immer wieder zu vermischen scheinen. Sehr stark hier auch, wie die Stewards des Schiffes plötzlich zu SS-Männern werden. Schon vorher kann man beobachten, wie beim Boarding fast beiläufig die Pässe der Passagiere eingesammelt und in einem Tresor verschlossen werden. Etwas deutlicher wird es später, als die drei Stewards durch die Reihen der Reisenden gehen und ihnen sämtlichen Schmuck abnehmen. Eine weitere gute Idee der Regie ist es, immer wieder verschiedene Fragen einer „jungen Israelin“, verkörpert durch die Choreografin der Produktion Liron Kichler, auf die Hinterbühne zu projizieren. Fragen die durchaus auch direkt an das Publikum gestellt werden und zum Nachdenken anregen. Alles in allem ist dem Regie- und Ausstattungsteam hier eine starke und eindringliche Inszenierung gelungen, die am Ende zu Recht lautstark bejubelt wird, nachdem sich das Publikum kurz in Stille von den zuvor erlebten zweieinhalb Stunden erholen konnte.

Auch musikalisch kann Die Passagierin in Krefeld überzeugen. Unter der musikalischen Leitung von GMD Mihkel Kütson spielen die Niederrheinischen Sinfoniker gewohnt kraftvoll und fein abgestimmt. Die Oper wird übrigens in deutscher, polnischer, tschechischer, jiddischer, französischer, russischer und englischer Sprache aufgeführt, was die Authentizität der Rollen verstärkt. Während das Schiffspersonal englisch, Lisa und Walter deutsch und die Häftlinge im Lager in ihrer jeweiligen Landessprache sprechen, sorgen deutsche Übertitel während der gesamten Aufführung für gute Verständlichkeit. Wobei große Teile der Oper in deutscher Sprache vorgetragen werden und auch ohne Übertitel gut verständlich sind. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Übertitel, denn diese verraten z. B. im zweiten Akt auch die wahre Botschaft des von der SS abgefangenen Briefes, den Marta falsch ins Deutsche übersetzt. In der Rolle der Marta überzeugt Sofia Poulopoulou mit klarem Sopran und bewegendem Spiel. Besonders stark auch die Darstellung von Eva Maria Günschmann als Lisa. Ihr zur Seite steht mit Jan Kristof Schliep als Walter der einzige Gast des Abends. Stark auch Rafael Bruck als Martas Verlobter Tadeusz, der seine Martha plötzlich und unerwartet im KZ wiedersieht, als ein Geiger für ein Konzert zu Ehren des Kommandanten gesucht wird. Eindrucksvoll inszeniert sind die Erinnerungen der verschiedenen Lagerinsassen, dargestellt von Susanne Seefing, Sophie Witte, Antonia Busse, Gabriela Kuhn, Bettina Schaeffer und Kejti Karaj. Die drei SS-Männer/Schiff-Stewards werden von Matthias Wippich, Jeconiah Retulla und Arthur Meunier verkörpert. Darüber hinaus wirken in kleineren Rollen Hayk Deinyan als älterer Passagier, Markus Heinrich als Chefsteward und Birgitta Henze als Oberaufseherin mit. Insgesamt ein beachtlicher Leistungsnachweis des hauseigenen Musiktheaterensembles, zu dem natürlich auch der von Michael Preiser gut einstudierte Opernchor gehört.

Man kann ein 75jähriges Jubiläum natürlich mit einer großen Operette schwungvoll feiern oder man macht es wie das Theater Krefeld-Mönchengladbach, das hier ein eindrucksvolles Zeichen gegen das Vergessen setzt, bei dem es am Ende treffend heißt: „Wenn eines Tages das Echo eurer Stimmen verhallt, dann sind wir verloren“. Eine Aussage, die heute vielleicht wichtiger ist denn je.
Markus Lamers, 20. April 2025
Die Passagierin
Oper in 2 Akten von Mieczysław Weinberg
Theater Krefeld
Premiere: 19. April 2025
Inszenierung: Dedi Baron
Musikalische Leitung: Mihkel Kütson
Niederrheinische Sinfoniker
Weitere Aufführungen: 1. Mai, 23. Mai, 13. Juni, 22. Juni und 2. Juli ; ab dem 18. Oktober 2025 im Theater Mönchengladbach