Alle Jahre wieder kommt der Engelbert, bringt uns Arien, Lieder – zaub´risch liebenswert!
Und etwas anderes darf eine Inszenierung von Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auch gar nicht vermitteln als eine liebevolle Entführung in den Märchenwald, in dem sich zwar entsetzliche Dinge abspielen (bis hin zum Feuertod einer Menschenfresserin), aber aus dessen grünen Kulissenebenen sich letztendlich sogar die Erlösung erhebt. Die vermeintlich von der bösen Hexe gefressenen Kinder haben nur in einem Zombie-Dasein dahinvegetiert, bis ihnen die beiden Protagonisten durch ihre beherzte Tat und ein messianisches Berühren das Leben zurückgeben. Und beim Schlußapplaus ist auch die Knusperhexe wieder da, die zuvor in einen sichtbar zu heiß gebackenen Lebkuchen transformiert worden war. Für die zahlreichen, teils noch sehr kleinen Kinder im Publikum war das eben nicht der Tenor Wolfgang Schwaninger, sondern die zuvor noch abgrundtief böse Alte, die jetzt mit allen Mitwirkenden trotz der überlangen Krallenfinger harmonisch Händchen hält und den begeisterten Jubel der Familien im Lübecker Theater für diesen märchenhaften Abend dankbar entgegennimmt. Alles gut – Problem gelöst, Ringelreihen mit allen Beteiligten!
In einer kleinen munteren Runde, die nach der Aufführung noch beisammensaß, zog Schwaninger den Vergleich zu den „Tom und Jerry“-Zeichentrickfilmen, in denen sich die beiden die schlimmsten Verletzungen zufügen, aber im nächsten Bild spielen Katz und Maus wieder blessurenfrei einander den nächsten Streich – alles andere geriete zum „Horror-Trip“. Die Sopranistin Lena Kutzner, die sehr bald als Chrysothemis in der „Elektra“ von Richard Strauss im Jugendstiltheater der Hansestadt zu erleben sein wird, ergänzte, daß es eben in der Kinderwelt um Schwarz und Weiß geht. Das Böse wird bestraft, Ende. Traumata hinterlassen solche Märchen nicht, das schafft nur die Wirklichkeit.
Dieser derzeit kaum ertragbaren Realität für zwei Stunden zu entfliehen, dazu ist eine spätromantische Inszenierung wie die von Herbert Adler genau richtig. Der Regisseur starb übrigens im Oktober dieses Jahres; das Programmheft gedenkt seiner in einem Informationskasten.
Zu entfliehen versuchte das Publikum an diesem Abend auch dem schon sprichwörtlichen Lübecker Verkehrschaos und froh war, wer endlich drin war im Großen Haus. Aufgrund der völlig verstauten Innenstadt kamen viele zu spät und es herrschte stellenweise Hektik statt Entspannung, bis alle von den aufmerksamen Saalkräften ins Innere geleitet worden waren. An dieser Stelle sei einmal denjenigen gedankt, deren Funktionieren nur allzu gerne vorausgesetzt wird und die niemals Beifall ernten: Die immer freundlichen, geduldigen und hilfsbereiten Damen an der Kasse, der Garderobe und der Presseabteilung machen eine phantastische Arbeit – zum Ende auch dieses Lübecker Theaterjahres ein herzliches Dankeschön für all Ihre Mühen, verehrte Damen!
Die Besetzung dieser aufgrund ihres Alters hinlänglich beschriebenen Produktion unterschied sich deutlich von der des Vorjahres, allerdings sang Andrea Stadel wieder die Gretel und überzeugte erneut durch ihr mädchenhaftes Spiel und den klaren Gesang. Ihren Bruder Hänsel gab Frederike Schulten und es machte den großen wie den kleinen Zuschauern Freude, die bubenhaften Späße dieses Lausejungen zu verfolgen, der die Schwester immer wieder liebevoll parodiert.
Die Mutter war diesmal Edna Prochnik, die im letzten Jahr als Hexe die Kinder gebannt hatte. Ihre Neigung zu den düsteren Rollen zeigte sich in ihrer Schimpftirade auf die Kinder, da drang die Abgründigkeit drohend hindurch.
Daß Gerard Quinn an diesem Abend stimmlich angeschlagen war, war bereits vor Beginn der Vorstellung entschuldigend angekündigt worden. Das machte aber nichts, denn eine leichte Heiserkeit paßte gut zur Rolle des alkoholisierten Vaters.
Kurzfristige Einspringerin am 9. Dezember war Elizaveta Rumiantseva, die als Sandmännchen und Taumännchen an Stelle der erkrankten Elvira Beekhuizen zu sehen und zu hören war. Als hätte sie die für sie neue Doppelrolle hundertmal bestritten, bezauberte sie durch Charme und glockenhellen Gesang.
Abräumer der Vorstellung war, wie zu erwarten, Wolfgang Schwaninger als Knusperhexe, der dieser Rolle trotz des krächzenden Lachens und der kreischenden Ausrufe eine sehr männliche Dimension gab – es wäre vielleicht einen Versuch wert gewesen, die Partie im Falsett zu singen. Komödiantisch war er großartig und für den Flug auf dem Besen mit Winke-Hexenkralle erntete er Szenenapplaus.
Stefan Vladar setzte in seiner Leitung des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck auf satten Wagner-Klang mit spätromantischer Breite, allerdings bei sensibler Berücksichtigung der Solo-Instrumente. Besonders die Flöten strahlten hellglänzend durch und die hohen Bläser zauberten den Glitzer-Zuckerguß auf das musikalische Lebkuchenhaus. Allerdings spielte das Orchester stellenweise so laut, daß die Solistinnen und Solisten nicht immer gut durchdrangen.
Kinder- und Jugendchor Vocalino (Leitung Gudrun Schröder) und Extrachor des Theaters Lübeck unter Jan-Michael Krüger legten wieder einmal eine zauberhafte Gesamtleistung hin und brachten jugendliche Frische in den düsteren Wald. Und wer beim Abendsegen und der Wacht der Englein über den Schlaf der Kinder keine Tränen in die Augen bekam, saß im falschen Stück.
Andreas Ströbl, 10. Dezember 2023
Hänsel und Gretel
Engelbert Humperdinck
Theater Lübeck
Vorstellung am 9. Dezember 2023
Inszenierung: Herbert Adler
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Kinder- und Jugendchor Vocalino sowie Extrachor des Theater Lübeck