Premiere 14. Dezember 2019
Ein gelungener Musical-Abend
Söhne von Getreidehändlern haben manchmal eine künstlerische Ader, solche Söhne waren etwa in Deutschland der aus Münster stammende Kunsthändler Alfred Flechtheim oder, aus der Ukraine stammend, Salomon Rabbinowicz, der zwar durch Fehlspekulationen in den USA 1890 Bankrott machte, unter dem Namen Sholem Alejchem aber ein erfolgreicher Schriftsteller wurde. In seinen Kurzgeschichten und Romanen schilderte er das Leben im osteuropäischen jüdischen Schtetl vor etwas mehr als 100 Jahren liebe- und verständnisvoll, einer Lebensform, die dank russischer Vertreibungspolitik Ende des 19. und Anfang des 20.Jahrhundert untergegangen ist. Höchsten Bekanntheitsgrad erreichte seine Episoden-Sammlung „Tevje der Milchmann“, weil aus ihm die Handlung des erfolgreichen Musicals „Anatevka“ entnommen ist, im Original-Titel heißt es „Fiddler on the Roof“ (Fiedler auf dem Dach angeregt durch Gemälde von Chagall) . Um ein solches Stück erfolgreich für den Broadway zu verfassen, müssen gleich mehrere Autoren tätig werden, hier Joseph Stein für das Buch, Sheldon Harnick für die Liedtexte und Jerry Bock für die Musik. Am vergangenen Samstag hatte das schon klassische Musical in deutscher Fassung von Rolf Merz und Gerhard Hagen im Theater Münster Premiere unter der musikalischen Leitung von Stefan Veselka.
Die gesamte Handlung spielte auf einem freien Platz, der nach hinten durch einen Rundhorizont begrenzt wurde und durch vorgeschobene Holzwände verengt werden konnte. Seitlich wurde die Bühne ebenfalls durch durchsichtige Holzwände begrenzt, die Häusern ähnelten, (Bühne Bernhard Niechotz). Für die Szenen innerhalb etwa von Tevje´s Haus konnte die Rückwand verdunkelt, für die Sabbatfeier mit Glühbirnen etwas kitschig dekoriert werden. Für Tevje´s Traumszene gab es magische Beleuchtung. Die häufigen Szenenwechsel wurden durch Hereinfahren von Tischen, vor allem von Stühlen und für die Traumszene durch das Ehebett angedeutet.
In diesem Rahmen ließ Regisseurin Nilufar K. Münzing die Handlung den Erwartungen des Publikums entsprechend sich entwickeln, eben neben den familiären Beziehungskisten auch die dauernde Bedrohung der Juden durch die Staatsgewalt. Ebenfalls entsprachen die Kostüme (auch Bernhard Niechotz) dem gewohnten osteuropäisch-jüdischem Milieu, wobei diese erst während des Vorspiels von den Mitwirkenden angelegt und zum bitteren Ende wieder abgelegt wurden – Anatevka und seine im Eingang gepriesene Tradition nur zeitlich begrenzte Episode!
Entscheidend für den Erfolg des Stückes ist der Darsteller des Milchmanns Tevje – hier konnte Gregor Dalal mit durch Operngesang erfahrenem Bariton alle szenischen und stimmlichen Erwartungen erfüllen, sowohl in nachdenklichem p als auch Chor und Orchester übertönend im f. Tongenau und geläufig gelang ihm der Hit „Wenn ich einmal reich wär“ mit den auf- und absteigenden Fülltönen und sogar Nachahmung von schreiendem Mastgeflügel. Ganz überflüssig wurde er hier pantomimisch durch einen Tänzer mit Hahnenkopf begleitet – das sollte wohl auch an Chagall erinnern. Ganz innig und ein wenig sentimental sang er die Chava-Sequenz über die an einen Christen verlorene jüngste Tochter Auch die gegensätzlichen Argumente einerseits – andererseits oder im Fall von Tochter Chava kein andererseits sowie die verschmitzten Gesprächen mit seinem Herrgott machten nachvollziehbar sein Bemühen deutlich, gesellschaftliche Veränderungen weg von der Tradition zu verstehen.
Glück hatte Münster mit den Darstellerinnen der drei jeweils den nach Ansicht des Vaters falschen Mann heiratenden Damen, alle Opernsängerinnen, was der musikalischen Seite sehr zu Gute kam. So wurde das anfängliche Terzett über baldiges oder späteres Heiraten von Melanie Spitau als Zeitel, Kathrin Filip als Hodel und Finn Samira als Chava zu einem musikalischen Höhepunkt des Abends. Später spielten alle ihre Rolle als gegen väterlichen Rat Liebende eindrucksvoll. Hodel beeindruckte zum Schluß noch besonders durch ihr Abschiedslied von der Heimat, als sie dem Geliebten ins ferne Sibirien folgte.
Suzanne McLeod beeindruckte wie gewohnt durch perfektes Spiel und grosse Bühnenpräsenz als Tevje´s langjährige resolute Ehe- und Hausfrau Golde. Auch sängerisch konnte sie beeindrucken, sodaß die melancholischen Duette mit Tevje über Erinnerung an die Kindheit der jetzt heiratenden Tochter oder über ihre lange Beziehung Ist es Liebe? zu weiteren Höhepunkten des Abends wurden.
Von den drei von Tevje zunächst ungeliebten Ehemännern beeindruckte Pascal Herington szenisch als Schneider Mottel und besonders stimmlich beim Agitato des Wunder o Wunder , das er zudem noch zum Bühnenhimmel aufschwebend singen mußte. Zusätzlich sang er komisch den Geist der Oma Zeitel in der Traumszene. Emil Schwarz als Revoluzzer Perchik und Patrick Kramer als christlicher Fedja beeindruckten besonders durch gelungenes Spiel. Mit raumfüllendem Bass sang Christoph Stegemann Zeitels abgewiesenen Ehekanditaten, den Fleischer Lazar Wolf, sodaß das Alkohol bedingte Zum-Wohl – Duett mit Tevje ein heiterer musikalischer Höhepunkt wurde.
Alle anderen der über zwanzig Partien waren passend besetzt, wobei Barbara Wuster als Heiratsvermittlerin Jente und als keifende wild lachende verstorbene Witwe Lazars Wolfs in der Traumszene einen heiteren Akzent setzte.
Bei Zeitels Hochzeitsfeier erhielt das Tanzensemble mit dem Flaschentanz wie üblich Extra- Applaus – sie tanzen mit Flaschen auf ihren Zylindern, die trotz immer feurigere Tanzrythmen nicht herunterfallen.(Choreografie Jason Franklin)
Solide wie gewohnt sangen Chor und Extrachor einstudiert von Joseph Feigl, wobei der Herrenchor in der Zum Wohl – Szene exakt aber ausgelassen klang, und der gesamte Chor als Zombies kostümiert in der Traum-Szene erschreckt schreiend komisch unheimlich wirkte.
Stefan Veselka begleitete mit dem Sinfonieorchester Münster rhythmisch exakt, machte die für ein Musical ungewöhnlich abwechslungsreichen Orchesterfarben deutlich und zeigte Gespür für im Tempo sich steigernde schwungvolle Hochzeitstänze, oder gegensätzlich für melancholische Ritardandi. Auch sollen die Soli einzelner Instrumente gelobt werden, etwa die Flöte als Kontrapunkt zur Geige am Anfang, das Englisch-Horn zur Einleitung des Sabbatgebetes, exotisch die Celesta zu Tevje´s Traum oder das Akkordeon bei Hodels Abschiedslied.
Neben Tevje ist die zweite Hauptperson des Stücks der Titel-gebende Fiedler. Da es keine Dächer gab, spielte Konzertmeister Mihai Ionescu mal aus halber Höhe, mal als Silhouette im Hintergrund oder als Tevje´s Begleiter auf der Bühne – vom ersten Solo im Prolog bis zur Schlußszene einfühlsam melancholisch aber nie in weinerliches Vibrato verfallend. Sein Spiel entsprach dem Motto eines kürzlich erschienenen Buches über den jüdischen Komponisten Max Weinberg Juden, die ins Lied sich retten.
Da zum Schluß zu Recht die Pläne einzelner Bewohner betreffend Auswanderung weggelassen wurden, endete der Abend unter langsames Gehen andeutender Orchesterbegleitung mit dem resignierten Abschiedschor Anatevka unterbrochen von Erinnerungsrufen von Solisten.
Da brauchte es etwas Zeit, bis Beifall und Bravos des Publikums im ausverkauften Theater sich zur Begeisterung steigerten als Anerkennung besonders für die Darsteller der Hauptpartien, von Dirigent und Orchester, auch für das Leitungsteam . War der Abend im ersten Teil durch allzu viel bekannte Witzchen und jüdisches Zeremoniell vielleicht etwas langatmig, geriet er dafür im zweiten Teil umso konzentrierter. So war es nach allgemeiner Meinung ein gelungener Musical-Abend.
Sigi Brockmann 15. Dezember 2019
Fotos (c) Oliver Berg