Nur etwas mehr als neun Jahre sind am Theater Münster seit der letzten Aufführung der Oper „Carmen“ von Georges Bizet auf den Text von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach dem dritten Kapitel der Novelle von Prosper Mérimée vergangen und schon gibt es eine Neuinszenierung, jetzt unter der musikalischen Leitung von GMD Golo Berg.
Aber im Unterschied zur letzten und vielen anderen Inszenierungen wollte Regisseurin Andrea Schwalbach einen etwas anderen Blickwinkel auf die Handlung hervorheben. Hatten wir doch immer etwas Mitleid mit Don José. Der vorher so brave der Mutter in der Person Micaëlas hörige Soldat ermordet in andalusischer und auch sonst vorkommender Macho-Manier Carmen. Da wird aus seiner übergroßen Leidenschaft und dem daraus erwachsenden Anspruch auf Liebe unkontrollierte Eifersucht, die Carmen noch anstachelt, indem sie ihre erotische Attraktivität selbstbestimmt als Ausdruck ihres Freiheitswillens einsetzt und so ihren ja schon vorher geahnten und in der Musik vom Vorspiel an angekündigten Tod zumindest etwas selbst provoziert.
Demgegenüber sollte uns die jetzige Aufführung die Handlung als Prototyp von ganz vielen ähnlichen Verbrechen zeigen, in denen in der Realität und auf der Opernbühne Männer Frauen ermordeten – diese „Femicide“ werden im Programmheft ausführlich aufgezählt. Demgemäß lag Carmen nach dem dramatischen Ende der Oper nicht tot auf dem Bühnenboden – dort lag Don José – sondern bestieg in der sich ins Unendliche ausdehnenden Bühne aufrecht ein Podest – wohl ein Denkmal für weibliche Selbstbestimmung.
Zusätzlich zur bekannten Handlung wurde, was Bizet und seine Textdichter zur Erklärung der Handlung für nicht notwendig hielten, eine fiktive Figur in Form eines „Conférenciers“ eingeführt. Dieser wurde dargestellt von Laurent Arcaro, der in wenigen Worten das Leben Don Josés erklärte, bis das Orchester mit dem Vorspiel einsetzte. Bei dauernder Anwesenheit auf der Bühne kommentierte er durch Gesten die Handlung oder griff in sie ein, etwa wenn er Carmen die Don José verführende Rose überreichte. Gleichzeitig spielte und sang er nach entsprechendem Kostümwechsel den Sergeanten Moralès und den Schmuggler Dancaïro sowie die kleine Sprechpartie des Bergführers, der im dritten Akt Micaëla zu den Schmugglern führt. Von allen Mitwirkenden sprach er als geborener Franzose mit Abstand das verständlichste Französisch, was bei der hier verwendeten Fassung der Oper mit gesprochenen Dialogen gegenüber den anderen Sängern besonders auffiel.
Die Bühne von Anne Neuser zeigte eine vordere Wand, vor der Bänke aufgestellt waren, auf denen beim Vorspiel und den Zwischenspielen die Solisten saßen und so nicht allzu sehr von der Musik ablenkten. Sehr sängerfreundlich wurden vor dieser Wand auch die Soloszenen gespielt. Für die Massenszenen wurde die Bühne nach hinten erweitert.
Chor und Kinderchor waren in etwas spanisch nachempfundenem Schwarz-weiß gekleidet, trugen häufig Sonnenbrillen, es gab aber keine Soldaten, keine Uniformen o.ä., während die Solisten heutige Kleider trugen. (Kostüme Bianca Deigner). Für die spanischen Folklore – Arien Carmens (Habanera, Seguidilla, Bohème-Lied) wurde dieser ein Flamenco-Rock um die Hüften befestigt. Etwas spanisches Flair wurde auch vermittelt dadurch, dass alle Solisten passend zum jeweiligen Rhythmus der Musik mit den Schuhen auf den Bühnenboden stampften und dazu in der Choreographie von Rachele Pedrocchi eine Tänzerin auftrat (Milena Sonia Junge), diezusätzlich auf den Bühnenhintergrund projiziert wurde (Sven Stratmann) . Das alles reichte denn durchaus, um Sevilla-Stimmung zu erzeugen!
Stimmlich sehr passend waren die drei Hauptpartien besetzt. Wioletta Hebrowska in der Titelpartie steigerte sich nach etwas verhaltener Habanera zu Beginn stimmlich und darstellerisch von Akt zu Akt. Die dynamische Steigerung des Bohème-Liedes im zweiten Akt gelang ihr mitreissend, bei Josés Auftritt beherrschte sie rhythmisch exakt die Kastagnetten, den Stimmungswechsel bei Josés Abschied machte sie stimmlich deutlich. In der nachfolgenden Todesahnung beim Kartenspiel fand sie dramatische Töne. Als sie in der Schlußszene endgültig zu José sagt „Nein ich gebe nicht nach“ (je ne céderai pas) gelang ihr der hochdramatische Abstieg der Stimme über fast zwei Oktaven.
Ganz großartig sang Robyn Allegra Parton mit vibrato freiem Legato und leuchtenden Spitzentönen die Partie der Micaëla, vor allem in der Großen Arie im dritten Akt, wo sie sich Mut zuspricht – ein Höhepunkt des Abends! Ein weiterer war vorher ihr Duett im ersten Akt mit Don José.
Für diese Rolle bemerkte Placido Domingo einmal, sie erfordere eigentlich zwei Stimmen – eine lyrische für die ersten beiden Akte und eine dramatische für die letzten beiden Akte, wo er sich gegen das grosse Orchester behaupten muß. Trotz seines lyrischen p-Belcantos in der Blumenarie gelangen Garrie Davislim die dramatischen Passagen im Schlußduett mit Carmen besonders ergreifend.
Als Sänger der Titelpartie im „Schmied von Gent“ ist Alik Abdukayumov in bester Erinnerung. Für den Escamillo fehlten ihm beim Torero-Lied, dem bekanntesten Hit der Oper. etwas die großsprecherische Stimmkraft, besonders bei den für einen Bariton ungewöhnlich tiefen Tönen der Partie bei einem dicken Orchesterklang von Hörnern und Trompeten. Sein Französisch war praktisch unverständlich. Etwas mehr gefiel er dann beim kurzen Duett mit Carmen im letzten Akt.
Benjamin Park als Remendado sowie Katharina Sahmland und Maria Christina Tsiakourma als Frasquita und Mercédès ergänzten passend das Ensemble, sodass das exakt gesungene Quintett im zweiten Akt zu einem etwas heiteren Höhepunkt des Abends wurde.
Opernchor und Extrachor sangen in der Einstudierung von Anton Tremmel gewohnt exakt, besonders, da sie häufig zum Publikum hinstehend oder auf Bänken sitzend auftraten. Im gekürzten Finale konnte man deshalb die beschriebenen Massenaufzüge als im Zuschauerraum stattfindend annehmen. Ganz beweglich und gelungen geriet der Streit der beiden Gruppen des Damenchors über eine angebliche Verletzung einer Arbeiterin durch Carmen.
Schon bei der dritten großen Oper in dieser Spielzeit glänzte der Theaterkinderchor des Gymnasium Paulinum einstudiert von R. Stork-Herbst und M. Sandhäger durch exakte Persiflage der nicht vorhandenen Soldaten.
Vor allem bewunderte man GMD Golo Berg und das Sinfonieorchester Münster. Das Zusammenspiel zwischen Bühne und Orchester funktionierte gut, auch in den erwähnten schwierigen Chorpassagen oder dem erwähnten Quintett im zweiten Akt. Die Temposteigerung beim Bohème-Lied zu Beginn des zweiten Aktes wurde rasant. Exakt gerieten – hier besonders wichtig – die verschiedenartigen Rhythmen. Auch hörte man die Ausführung des raffinierten Orchestersatzes, wo etwa Bizet häufig p oder pp vorschreibt.
Viele Soli des Orchesters gefielen, als Beispiele seien etwa genannt immer wieder die tiefen Töne der Flöten, das Solo der Violine bei Carmens Verhör im ersten Akt, das Solo des Englisch-Horns bei der Blumenarie oder das Horn Solo in der Einleitung der Arie der Micaëla im dritten Akt.
Trotz gleichzeitiger Übertragung von „Carmen“ aus der New Yorker MET war das Theater ausverkauft. Es gab Zwischenapplaus nach einzelnen „Hits“ der Oper und langen Beifall für alle, auch für das Leitungsteam, mit Bravos für die Sängerinnen und den Sänger der Hauptpartien sowie den Dirigenten und das Orchester.
Sigi Brockmann 28. Januar 2024
Carmen
Georges Bizet
Theater Münster
Premiere am 27. Januar 2024
Inszenierung: Andrea Schwalbach
Musikalische Leitung: Golo Berg
Sinfonieorchester Münster