Zwei Tage nach der Aufführung der Oper „Fausto“ von Luise Bertin gab es im gleichen Théâtre des Champs-Elysées – akustisch und optisch ideal für diese Art von Musik – ein Konzert für Orchester (in mittlerer Besetzung) und Klavier, um sechs weitere Komponistinnen vorzustellen. Der Abend wurde eröffnet mit der Ouvertüre der Erstlingsoper von Louise Bertin „Le Loup-garou“ (auf Deutsch „Der Werwolf“, 1827), einer einaktigen komischen Oper (opéra comique) wahrscheinlich im Geiste des „Freischütz“. Das war schon viel mehr eine eigene Tonsprache als „Fausto“, aber sehr viel mehr kann man auch nicht über diese sechs Minuten sagen. Es folgten viele kürzere, angenehme Stücke, wie eine Art „Aperitif“ um auf diese vollkommen unbekannten Komponistinnen einzustimmen. Als erste die sinnliche Orchester-suite „La Nuit et l’Amour“ von Augusta Holmès (1847–1903). Wie schon in der Einleitung erwähnt, war sie eine bärenstarke Frau, die mutig mit allen damaligen Konventionen brach. Von englisch-irischer Abstammung kam sie nach Paris zu ihrem Patenonkel, dem Schriftsteller Alfred de Vigny, der ihr ein sehr breites Studium ermöglichte – sie hatte neben ihrer offensichtlichen musikalischen Begabung auch noch Talent für Malerei und Literatur und schrieb selbst die Mehrzahl ihrer Libretti – ohne dass sie anscheinend je eine Kunstschule oder ein Konservatorium besucht hat. Sie bekam exzellenten Privat-Unterricht, u. a. von César Franck, mit dem sie eine Affäre gehabt haben soll (so die damaligen eifersüchtigen bösen Zungen, die damals in gleicher Art über viele Komponistinnen herzogen) und war zwanzig Jahre lang die Lebensgefährtin des (verheirateten) Schriftstellers und Wagnerianers Catulle Mendès, mit dem sie fünf Kinder bekam. Sie ging in die Musikgeschichte ein mit ihrer „Ode triomphale en l’honneur du centenaire de 1789“ während der Weltausstellung von 1889 (100 Jahre Französische Revolution) mit mehr als 1000 Mitwirkenden (!), doch ihre großen Opern „Astarté“, „Lancelot du lac“ und „Héro et Léandre“ wurden zu ihren Lebzeiten niemals aufgeführt – und auch danach nicht. Nur „La Montagne noire“ 1895 kam auf die Bühne der Pariser Oper und soll nächstes Jahr in Dortmund wieder gespielt werden. Was für eine Frau und was ein Werk! Man hört es leider nicht raus aus diesem sinnlichen „Lied“, das mich erstaunlicherweise etwas an das (viel spätere) „Dein ist mein ganzes Herz“ von Franz Lehàr erinnerte.
Ähnlich erging es mit dem lieblichen Stück von Louise Farrenc (1804–1875), die 1821 den Flötisten Aristide Farrenc geheiratet hatte, der seinen Musikerberuf aufgab, um sich der Herausgabe von Noten zu widmen, vor allem der Veröffentlichung der Werke seiner hochbegabten Frau. Farrenc gilt als Wegbereiterin in der französischen Musikgeschichte mit ihren beiden Klavierquintetten op. 30 und 31, sowie allgemein für ihre Klaviermusik: sie war von 1842 bis 1873 Professorin für Klavier am Pariser Konservatorium und, vor allem, anscheinend die einzige Frau, die ganze Sinfonien komponiert hat, die damals auch in Deutschland gespielt wurden – Franz Liszt fand sie „genial“! – und die man sich in der CD Box nun anhören kann (tolle Musik!). Von Clémence de Grandval (1828–1907) gab es nur drei Tänze aus (oder nach?) ihrer Oper „Mazeppa“ (1892 in Bordeaux, die nun nächstes Jahr in Deutschland wieder gespielt werden soll) und von Jeanne Danglas (1871–1915) einen lieblichen Walzer: „Du coeur aux lèvres“. Auch für Mel Bonis (1858–1937) gab es nur eine „Suite en forme de valses“, obwohl es da wohl inhaltvolleres gegeben hätte. Aber dafür eröffnet sie die CD Box, wo sie den „Löwinnen-Anteil“ nimmt, mit ihren „Orchesterträumen“ „Le rêve de Cléopâtre“, „Ophélie“ und „Salomé“. Das Palazzetto hat ihr bereits 2020 ein dickes Buch gewidmet und schon 2012 ein Platte mit Klavierstücken. Der Abend endete mit dem Klavierkonzert N°2 von Marie Jaëll (1846–1925). Ein sehr „kräftiges“ Stück (also keineswegs „lieblich“ oder „weiblich“), denn Jaëll verstand etwas von Klaviertechnik und galt als brillante Solistin. Nachdem sie 1883–85 Mitarbeiterin (?) von Franz Liszt in Weimar gewesen war – zuvor war sie die „Sekretärin“ von Camille Saint-Saëns – war sie die erste Pianistin, die in Paris 1891 Liszts Gesamtwerk zur Aufführung brachte und danach (1892-94) alle 32 Klaviersonaten von Beethoven aufführte. David Kadouch hat ihr hoch-virtuoses Konzert wunderbar gespielt und – obwohl danach „seine Finger müde waren“ – danach noch eine Zugabe: ein berührendes Klavierstück von Fanny Mendelssohn. Hervé Niquet dirigierte das sehr motivierte Orchestre de chambre de Paris mit „Bonhomie“ und einer überbordenden guten Laune. Als Zugabe spielten sie einen weiteren Walzer von Jeanne Danglas: „Sur l’aile d’un rêve“. Danach bestürmten die Besucher den riesigen Tisch mit Editionen des Palazzetto Bru Zane im Foyer des Theaters, um mehr über diese unbekannten Komponistinnen zu erfahren, und das war genau der Sinn des Konzerts.
Waldemar Kamer, 26. Juni 2023
Beiträge zum Schwerpunkt „unbekannte Komponistinnen“:
„Fausto“, Oper von Luise Bertin
Konzert: „Sieben romantische Komponistinnen“