Vorstellung am 30.04.2022
Mit so einigen kraftvollen artistischen Sprüngen und kunstvoll arrangierten Figurationen der Tänzer geht es jetzt in der Wiener Staatsoper um einiges zurück in die Epoche der Wiener Klassik. Joseph Haydns vormals volkstümliches Oratorium „Die Jahreszeiten“ steht nun mehrmals auf den Programmzetteln an den Abenden des Hauses. Getanzt vom Wiener Staatsballett. Auf heutzutage trendy Art. Allerdings: Erweist sich Haydns Alterswerk aus dem Jahr 1801, eine Folge von vier in sich geschlossenen Kantaten, auch als eine so richtig passende Tanzmusik? Benötigen edle klassischen Harmonien ein derart geschäftig rotierendes Rundum?
Martin Schläpfer hat sich als Choreograph für seine beiden ersten Saisonen als Chef des Staatsballett nicht so ganz den Bedürfnissen des heimischen Publikums entsprechend (wohl auch des Operndirektors?) so eine Art Motto ‚Ballett ohne Ballettmusik‘ gewählt und dies bis jetzt durchgezogen. Als Nr. 6 in diesem Zyklus wird nächste Saison György Ligeti zitiert ….. doch aufatmen: im Psycho-Stil möchte man sich auch Tschaikowskis „Dornröschen“ nähern. Bis jetzt waren die Komponisten Mahler (4. Symphonie), Beethoven (4. Klavierkonzert), Brahms (Deutsches Requiem), Schostakowitsch (Symphonie Nr.15) an der Reihe. Und mit diesen „Jahreszeiten“-Puzzle – nicht der flirrende Gesang des Antonio Vivaldi, nicht die prächtig aufrauschende Ballettpartitur von Alexander Glasunov – bleibt Schläpfer seinem choreographischen Schema mit dessen vielen Wiederholungen treu. Für Besucher als erste Begegnung: ein dynamisches wie auf Ästhetik bedachtes auf und ab mit feinen Tänzern. Für Kundigere in Sache Ballett: Ob Mahler oder Brahms, it´s always the same.
Noble Musik – und Schläpfer denkt durchaus human. Als Tanzschöpfer-Senior mit dem Moderne-Faible seiner Zeit hinkt er den großen Choreographen dieser Epoche nach. Schläpfer sucht, sucht, sucht, möchte differenzierte Psychogramme niederschreiben …. und landet mit seiner gut beherrschten Profession bei den Manierismen des heute allgemein eingesetzten Bewegungsrepertoire und dessen gängigen Ingredienzien. Er sucht nach Finessen, kann solche immer wieder finden, bleibt aber auch bei zwei Stunden klassischer Musik-Schönheit in seinem dramaturgischen Ego gefangen.
„Welche Labung für die Sinne!“ lauten etwa die Worte von Gottfried van Swieten zu Haydns auf klassische-romantische Atmosphäre bedachten Schilderung der Jahreskreislaufes. Oder, berühmter Gesang: „Schon eilet froh der Ackermann zur Arbeit auf das Feld“. Und ausgelassener: „Lasst uns hüpfen! Heißa! Hopsa!“. Auch ein kräftiges „Ho!“ fehlt da nicht. Und der Religiosität dieser Zeit entsprechend: „Sei nun gnädig, milder Himmel!“, „Die Abendglocke tönt“, „Von oben winkt der helle Stern“, „Ein redlich Herz ist was uns rührt“. Solch eine Denkungsart lenkt bereits in die Richtung der Kultur des Biedermeiers.
Des Choreographen bis jetzt vorgeführtes System, hier wie bei Brahms, Mahler, Schostakowitsch: Der Grundton der jeweiligen musikalischen Aussage wird aufgenommen, doch rasch geht es über jegliche Strukturen der symphonischen Kompositionen hinweg und es wird dem tänzerischen Zeitgeist gefolgt. Handwerklich perfekt gemacht, nicht so ganz die erwünschte Tiefenwirkung erzielend. Hier kürzest ein andeutendes Mini-Register von den sich wiederholenden gestalterischen Mustern und Mechanismen: Immer, immer wieder nur eine dunkle leere Bühne; keine klar erzählende oder durchgehende Geschichte; und schon wieder, schon wieder ein herein stürmendes oder trippelndes Rudel an TänzerInnen; Solisten tauchen auch zu zweit, zu dritt auf, können dabei stets markig auftrumpfen; oft zu sehen: am Boden hockende, hingestreckte, sich wälzende Opfer; hoch gesprungen und dann sofort sinnierend niedergesetzt; zuerst ein Arm in die Höhe gereckt, dann der andere; jetzt beide schnell hoch; und noch einmal; Gebärdensprache dazwischen – da können die Tänzer wie Dummerln wirken; und schon wieder auf dem Boden gekauert; und nochmals, nochmals …. so eine richtiger Spannungsverlauf ist nicht gegeben.
Schläpfer bemüht sich nicht übermäßig um weitere Assoziationen zu Haydns klangmalerischen Stimmungsbildern wie aufkommendes Gewitter, schwül lastende Sommertage, muntere Hirschjagd (humoristisch reizvoll gedeutet) und Weinlese etc. – sondern er schafft den Worten van Swieten folgend seinen eigenen Lebenskreis im weiten nüchternen Raum (Bühne & Kostüme: Mylla Ek). Fahl eingeleuchtet, von Natur oder Natürlichkeit ist nicht das geringste zu merken. Dramatik wird kaum aufgebaut. Intensivere Wirkung erzielt nach der Pause Haydns vierte Kantate: der Winter als Paraphrase auf das menschliche Leben und Vergänglichkeit. „Erblicke hier, betörter Mensch“ ist mit einiger stimmiger Poesie durchsetzt.
Das Ensemble? Viele, viele Tänzer sind im Programm aufgelistet, und in ihren kunterbunten wie simplen, so gar nicht charakterisierenden Tanzkostümen bleiben sie im massiven Aufgebot doch anonym. Ketevan Papava steht da notiert, Maria Yakovleva, Davide Dato, Eno Peci, Massayu Kimoto. Echte Champions, bemüht um Emotionen zu zeigen. Wer ist wer? Dem herrschenden Chef zu dienen dürfte nicht allzu lustig sein.
Diese Wanderung durch das Jahr: Das vivide tänzerische unablässliche auf und ab auf der Bühne, dieses ständige Hin und Her, rein und raus mag mehr oder weniger gefallen. Beste Schützenhilfe dabei bekommt der Choreograph aus dem Orchestergraben. Der Arnold Schönberg Chor musste für dieses Gastspiel aus dem Theater an der Wien in die Staatsoper übersiedeln, perfekt. Und Adam Fischer weiß als einspringender Dirigent zu gut, wie das Opernorchester zu ordentlichem Spiel angefeuert werden kann. Die Gesangssolisten erfüllten sehr ansprechend ihre Stichworte: Slávka Zámecniková, Josh Lovell, Martin Häßler.
Veredelnde Wiener Klassik versus die heutige Tanzmode und deren Manierismen. Oder doch Hand in Hand, so eine Art von friedlicher Koexistenz? Vor ganz wenigen Saisonen war in der Staatsoper bereits ein Jahreszeiten-Ballett zu sehen. Originale Ballettmusik von Verdi, von Choreographengröße Jerome Robbins hintergründig schmunzelnd und sehr ironisierend gedeutet. Schon vergessen? Der Bühnentanz ist nun einmal eine sich schnell verflüchtende Kunst.
Meinhard Rüdenauer, 1.5.22
Bilder (c) Wiener Staatsballett/ Ashley Taylor
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online (Wien)