Stuttgart: „La Bohème“

Besuchte Aufführung: 10.1.2020 (Premiere: 30.5.2014)

Die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs oder lebendige Bilder einer Ausstellung

Sie ist immer wieder sehenswert, Andrea Moses` bereits aus dem Jahr 2014 stammende Inszenierung von La Bohème. Auch dieses Mal zeigte sich das zahlreich erschienene Publikum mit dem Dargebotenen höchst zufrieden. Frau Moses ist wahrlich eine Meisterin ihres Fachs. Sie versteht sich vortrefflich auf eine stringente, spannungsgeladene Führung der Personen. Auch das innovative Durchdringen zum Kern des Stücks gehört zu ihren Stärken. Sie hat der Bohème gekonnt ein zeitgenössisches Gewand übergestreift und die dargestellten Konflikte geschickt in unsere Zeit transferiert.

Rodolfo, Mimi

Die Grundessenz der Oper hat Andrea Moses unangetastet gelassen. Im Zentrum der Handlung steht auch hier das tragische Geschehen um Liebe und Tod. In dieser Beziehung erweist sie herkömmlichen Konventionen ihre Reverenz. Jegliches Abgleiten ins Kitschige wird aber vermieden. Das bekommt dem Werk gut. Die große Angst Mimis vor dem Tod erfährt bei der versierten Regisseurin in erster Linie im vierten Akt eine eindringliche Beleuchtung. Zudem kommt es Frau Moses insbesondere auf eine kritische Auseinandersetzung mit heutigen Künstlerschicksalen und dem Kunstmark unserer Zeit an, dessen komplexe und häufig ziemlich fragwürdige Erscheinungsformen oftmals zu einer Zerrüttung der künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten führen. Als Bühnenbildner steht ihr Stefan Strumbel zur Seite. Die recht eigenwillige und zeitweilig überaus hintersinnig anmutende Bildersprache des seit 2001 freischaffenden Pop-Art-Künstlers, der seine Ursprünge im Graffiti-Sprayen hat, verleiht der Inszenierung einen ganz spezifischen optischen Anstrich. Unterstützt wurde er bei seiner Arbeit von Susanne Gschwender. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme lag in den bewährten Händen von Carmen C. Kruse.

Mimi, Rodolfo

In ihren jeweiligen konzeptionellen Ansätzen harmonieren Andrea Moses und Stefan Strumbel vorzüglich miteinander. Rigoros stellen sie die desolaten Lebensverhältnisse heutiger Kunstschaffender an den Pranger. Die Bohèmiens haben sich in einem Hinterhof-Atelier eingenistet, in das Strumbel offenbar visuelle Eindrücke aus seiner ersten Werkstatt in Offenburg hat einfließen lassen. Die von Anna Eiermann reichlich skurril eingekleideten Handlungsträger sind Bestandteil einer digitalisierten und technisierten Medienwelt, deren Erzeugnisse sie bestens zu nutzen wissen. Damit gelingt es ihnen hervorragend, sich auf dem stark überlaufenen Künstlermarkt besser zu verkaufen. Ständig filmen sie sich gegenseitig mit Video-Kameras. Die auf diese Weise festgehaltenen Ausschnitte aus ihrem Leben präsentieren sie mit Hilfe zahlreicher Monitore der Kunstszene. Ein weiteres bedeutsames Element ihrer Behausung bildet eine Tonanlage. Diese ist ihnen behilflich, sich bei ihren Arien als Pop-Stars vor dem Mikrophon angemessen in Szene zu setzen. Manchmal ist ihnen damit Erfolg beschieden, manchmal nicht. Frau Moses` Inszenierung lebt von einem ständigen Auf und Ab in dem gnadenlosen Kampf um künstlerische Anerkennung, das durch einen ständigen Wechsel von fließenden und stehenden Bildern auf den Fernsehschirmen trefflich versinnbildlicht wird. Mal wird die Realität punkgenau abgebildet, mal frieren die auf die Monitore projizierten Bilder ein.

Staatsopernchor Stuttgart, Statisterie

Das in seiner äußerst farbigen Opulenz stark überzeichnete Bild des von Paris auf den Stuttgarter Weihnachtsmarkt verlegten zweiten Aktes mit all seinen Weihnachtsmann- und Engelsfrauen, Eisbären, Pinguinen, Schneehasen, Party-Service-Vertretern, einer Pfauendame und einem Transvestiten sowie der sommerlich leicht und bunt gewandeten Kinderschar wird zum Sprachrohr für die durchaus angebrachte Konsumkritik des Regieteams. Mit dem Mercedes-Stern als Spitze eines Weihnachtsbaumes und einer ausgeprägten, in der Luft schwebenden und rötliches Fleisch ausspuckenden Spätzlepresse mit dem Schriftzug Heilig`s Blechle nimmt Stefan Strumbel mit einem leichten Augenzwinkern bekannte schwäbische Markenzeichen auf die Schippe. Diese Bilder atmen voll und ganz den Geist des Bühnenbildners. Einige dieser Motive kennt man von ihm schon. Und sein bereits oft ins Feld geführtes Lieblingsthema Heimat wird auch hier erneut ausführlich thematisiert. Dass Herr Strumbel seine Heimat liebt, verkünden im dritten Akt Aufschriften an Wänden und Containern. Bezogen auf die Konzeption von Andrea Moses bedeutet diese Idee das Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Kunstbegriff.

Pavel Valuzhin (Rodolfo), Mimi

Die Bohèmiens verteidigen ihre jeweilige künstlerische Heimat mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Heimat bedeutet für sie Freiheit. Demgemäß ist es nur konsequent, dass sich die Freunde auch politisch engagieren. Politik und Kunst gehen in dieser Produktion eine enge Verbindung miteinander ein. Da ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Protagonisten am Ende des zweiten Aktes in einen Terrorakt geraten und daraufhin Bekanntschaft mit der Polizei machen. Das Risiko, in der Gosse oder im Rotlicht-Milieu zu landen und damit ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, ist groß. Daran lässt die Regisseurin keinen Zweifel, wenn sie im dritten Bild einige leichte Mädchen in einem regelrechten Müllcontainer hausen lässt – und passenderweise genau in demjenigen, auf dem Strumbels Heimat-Postulat zu lesen ist. Ihren Höhepunkt erreicht die soziale Tristesse im vierten Akt, in dem Frau Moses` Regiearbeit ihre stärksten Momente hat. Die Einrichtung der Heimstatt der vier Freunde wirkt im Vergleich mit dem ersten Akt reichlich reduziert. Sie mussten nicht nur viele ihrer Habseligkeiten verkaufen, um ihr Leben zu fristen. Mit großem Können hat die Regisseurin ihr Atelier zudem in ein karg und kühl anmutendes Museum integriert, in dem die Bohèmiens die Hauptattraktion darstellen. In dem Konglomerat von öffentlich zugänglichem und privatem Raum werden sie gleichsam zu lebendigen Bildern einer Ausstellung unter dem Titel La vie de Bohème, die von den Besuchern neugierig in Augenschein genommen werden. Jeglicher Art von Privatsphäre wird nun eine klare Absage erteilt. Sogar Mimis Sterben auf einem schlichten Sofa erfolgt unter den neugierigen Augen einer gaffenden Öffentlichkeit. Mehr noch als das verblichene körperliche Original erringt das zunächst farbige, mit ihrem Tod schwarz-weiß gewordene, auf eine überdimensionale Leinwand projizierte Photo von Mimis Gesicht die Aufmerksamkeit der Museumsbesucher. Unmittelbar nach ihrem Tod wird das Bild auch schon verkauft. Das belegt ein roter Punkt in dessen rechter unteren Ecke. Die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs macht sogar vor dem Tod nicht halt, genau wie sie bereits zuvor die wesentlichen Festen menschlichen Zusammenlebens nachhaltig erschütterte. Rodolfo hat nicht nur die ihn inspirierende Muse verloren. Das Zerbrechen von Freundschaften und das Auseinanderleben von Gemeinschaften sind die Folge – ein ungemein eindringliches Ende. Insgesamt haben wir es hier mit einer der besten Deutungen des Werkes zu tun.

Musetta, Staatsopernchor Stuttgart

Auch mit den gesanglichen Leistungen konnte man hoch zufrieden sein. An diesem Abend hatte in der Stuttgarter Staatsoper der Krankheitsteufel zugeschlagen. Esther Dierkes, die die Mimi singen sollte, konnte wegen einer Indisposition nicht singen. An ihrer Stelle kam Elizabeth Caballero zum Einsatz, die die Rolle bereits an der Metropolitan Opera New York gesungen hatte. Mit diesem Engagement ist der Opernleitung ein absoluter Glücksgriff gelungen. Mit ihrem in jeder Lage gut ansprechenden, eine vorbildliche italienische Technik aufweisenden, warmen und in der Höhe prächtig aufblühenden Sopran vermochte Frau Caballero restlos zu begeistern. Neben ihr bewährte sich mit hellem, ordentlich sitzendem und sauber geführtem Tenor Pavel Valuzhin als Rodolfo. Einen voluminösen, ausdrucksstarken Bariton brachte Johannes Kammler für den Marcello mit. Darstellerisch recht kokett, gesanglich mit ihrer gut im Körper verankerten Sopranstimme sehr überzeugend war die Musetta von Aoife Gibney. Getragen und mit viel Gefühl trug Jasper Leever die Mantel-Arie des Colline vor. Ein solide singender Schaunard war Andrew Bogard. Gut gefiel Sasa Vrabac in der kleinen Rolle des Alcindoro. Ein ordentlicher Benoit war Matthew Anchel. Schön im Körper intonierte Alois Riedel den Parpignol. Heiko Schulz (Sergeant), Tommaso Hahn-Fuger (Zöllner) und Alexander Efanov (Pflaumenverkäufer) rundeten das homogene Ensemble ab. Wieder einmal ausgezeichnet präsentierte sich der von Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor und Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Mimi, Pavel Valuzhin (Rodolfo), Musetta

Für den jungen Dirigenten Christopher Schmitz war das Stück hörbar eine Herzensangelegenheit. Zusammen mit dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart erzeugte er einen leidenschaftlichen, tief emotionalen und farbenreichen Klangteppich, der stark unter die Haut ging.

Fazit: Eine in jeder Beziehung vorzügliche Aufführung, die die Fahrt nach Stuttgart wieder einmal voll gelohnt hat!

Ludwig Steinbach, 11.1.2020.

Die Bilder stammen von Martin Sigmund