Wiesbaden: „Oryx and Crake“, Søren Nils Eichberg

Die Polkappen sind abgeschmolzen. Die Ozonschicht ist verschwunden. Die Menschheit wurde von einer Seuche dahingerafft, deren Erreger aber nicht zufällig entstanden, sondern von einem Gentechnik-Genie namens Crake ertüftelt und freigesetzt wurde, um den Planeten von seiner größten Gefahr zu befreien, dem Homo sapiens. Überlebt hat die Seuche nur Crakes alter Freund Jimmy, den Crake rechtzeitig gegen die Designerseuche geimpft hatte. Crake selbst wurde von Jimmy getötet, nachdem Crake zuvor die von beiden begehrte Oryx aus ungeklärten Gründen getötet hatte. Überlebt haben ebenfalls Vertreter einer von Crake gezüchteten neuen Menschrasse, die Craker, aus deren Erbgut alles getilgt wurde, was ihr Schöpfer als verantwortlich für die Klimakatastrophe und das Artensterben ausgemacht hatte: Selbst- und Arterhaltungstrieb, die Angst vor dem Tod, Religiosität, Wissensdrang, Besitzstreben und das Verlangen nach tierischem Eiweiß. Herausgekommen ist eine einfältige, aber friedliebende Spezies mit dem geistigen Horizont von Kleinkindern, die Jimmy unter dem Namen Snowman wie einen Propheten verehrt.

Benjamin Russell (Snowman) / © Karl und Monika Forster

Das ist der Ausgangspunkt von Margaret Atwoods vor 20 Jahren erschienenem dystopischen Roman Oryx and Crake. Neben einem Haupterzählstrang, der vom Überleben Jimmys auf einem unwirtlichen Planeten handelt, wird der Roman geprägt von Rückblenden, in denen aus Jimmys Erinnerung heraus die Vorgeschichte der Katastrophe erzählt wird. Diese Erzähltechnik mit Rückblenden und dem Aufblitzen von Erinnerungen hat auch das Libretto von Hannah Dübgen übernommen. Dabei hat sie die Figur des Jimmy aufgespalten und auf drei Darsteller verteilt. Der postapokalyptische Jimmy haust auf dem gewaltigen Ast eines Baumes, der in die vordere linke Bühnenhälfte hineinragt. Dort schützt er sich vor genmanipulierten Wachhunden und gefräßigen „Organschweinen“. Dabei gibt er sich seinen Erinnerungen hin und fungiert für das Publikum als Erzähler. Nur gelegentlich steigt er herab, meist um die Wissbegierde der Craker mit erfundenen Mythen zu befriedigen. Søren Nils Eichberg hat diese Hauptpartie Benjamin Russell gleichsam in die Kehle komponiert. Russell verfügt über einen saftigen, in der Mittellage warm timbrierten Bariton mit unangestrengter Höhe. Die Stimme ist fast zu schön für einen ausgezehrten, desillusionierten Überlebenden der Apokalypse. Sein aus Erinnerungen heraufbeschworenes früheres Selbst gibt der Tenor Samuel Levine. Daß hier dieselbe Figur zwei unterschiedlichen Stimmregistern anvertraut wird, bewirkt aber keinen Bruch, da der Komponist die Möglichkeiten eines Tenors in der Höhe nicht ausreizt und Levine als Pendant zu Russells tenoraler Höhe über eine stabile Tiefenlage verfügt. Joel Stambke schließlich, ein Limburger Domsingknabe, stellt Jimmy als Kind dar.

Samuel Levine (Jimmy), Christopher Bolduc (Crake) / © Karl und Monika Forster

Obwohl das Libretto das Episodenhafte der Rückblenden aus der Vorlage übernommen hat, sind diese so arrangiert, daß sich über das allmähliche Zusammensetzen von Puzzleteilen die Vorgeschichte bis zur Auslöschung der Menschheit in einem rudimentär chronologischen Erzählgerüst samt Klimax und Kulminationspunkt ergibt. Daneben hat die Librettistin noch ein wenig Platz gefunden, um ein Hauptelement der Rahmenhandlung aus Atwoods Roman wenigstens kurz zu präsentieren: Das Erfinden eines Schöpfungsmythos durch Jimmy/Snowman zur kindgerecht erlogenen Weltdeutung für die Craker. Es ist ohnehin erstaunlich, daß die Fülle der von Atwood in ihrem Roman aufgerufenen und miteinander verschränkten Themen auch in dieser Oper von gerade einmal 100 Minuten Dauer präsent ist, ohne daß dabei blutleeres Thesentheater entsteht. Hieran haben neben dem geschickt arrangierten Libretto die Videoprojektionen von Astrid Steiner den wichtigsten Anteil. Auf mehreren räumlich in die Bühnentiefe gestaffelten transparenten Leinwänden entstehen hologrammartige Bildeindrücke. Da ist zunächst die phantasievoll ausgemalte schöne neue Welt der genmanipulierten Natur samt grünlich leuchtenden Kaninchen. Immer wieder wird Jimmys Erzählung plastisch durch Einblendungen illustriert. So wird etwa ein „Organschwein“ wie in einem Lehrfilm präsentiert, sieht man dem Videospiel von Jimmy und Crake aus besserer Vergangenheit zu, wird man Zeuge von Crakes Erschaffung neuer Kreaturen und verfolgt schließlich auf einer Weltkarte die explosionsartige Ausbreitung des tödlichen Virus. In Inszenierungen „traditioneller“ Stoffe wirken Videoprojektionen oft aufgesetzt. Für diesen düsteren Science-Fiction-Plot jedoch erweisen sie sich als ideale Präsentationsform. Die überbordende Phantasie der Romanvorlage mit ihrer Lust an der Erfindung neuer Wesen und technischer Geräte ließe sich mit traditionellen Bühnenmitteln kaum adäquat darstellen. So aber ergänzen und erweitern die Bilder das Gesagte und Dargestellte. Zudem unterlaufen die Videos auch die in der Rahmenhandlung angelegte Statik. Denn schließlich sitzt hier jemand hauptsächlich auf einem Baum, um Bilder der Vergangenheit zu beschwören, oder er steigt herab, um den Crakern mit ad hoc improvisierten Mythen die Welt zu erklären.

Die Craker / © Karl und Monika Forster

Für die Craker hat das Produktionsteam Tänzer engagiert, deren Ausstattung mit enganliegenden, metallisch-dunklen Ganzkörperanzügen und maskenartigen Gesichtern, in denen die Augen grün schimmern (Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer), sehr gelungen ist. In der Choreographie von Rosana Ribeiro bewegen sie sich geschmeidig über die Bühne und bilden ein weiteres Element der szenischen Belebung. Regisseurin Daniela Kerck formt Choreographie, Video und das Agieren der Sänger zu einer bruchlosen szenischen Einheit. Sie zeichnet auch für das Bühnenbild verantwortlich, das sich aber hinter den Projektionen zurücknimmt. Da bleibt nicht viel mehr in Erinnerung als das Panorama der Skyline einer Großstadt auf dem Rückprospekt.

Gegen diese starken visuellen Reize kann die Musik von Søren Nils Eichberg sich behaupten. Sie ist fast klassisch opernhaft, weil sie nicht gegen, sondern für die Gesangsstimmen komponiert. In den Erzähl- und Konversationspassagen folgt sie der natürlichen Prosodie der englischen Sprache. Immer wieder gibt es Kantilenen, in denen sich die Stimmen entfalten können. Dabei bleibt besonders der sirenenhafte Gesang von Anastasiya Taratorkina in Erinnerung, den Eichberg zu Jimmys Erinnerung an Oryx erklingen läßt. Überhaupt wird fabelhaft gesungen in dieser Uraufführung. Neben den bereits Genannten können sich auch Christopher Bolduc mit seinem kernigen Bariton als Crake und Fleuranna Brockway mit ihrem ausdrucksstarken Mezzosopran als Jimmys Mutter profilieren.

Benjamin Russell, Christopher Bolduc, Samuel Levine / © Karl und Monika Forster

Im Orchestersatz mixt Eichberg die Stile munter durcheinander, greift sich aus dem Fundus des 20. Jahrhunderts, was er gerade brauchen kann. Es gibt sogar ein Leitmotiv, das zu Beginn vorgestellt wird und im Laufe des Abends immer wieder erklingt. Avantgarde verbindet sich mit Rockigem. Kein Wunder, denn zu seinen Inspirationsquellen zählt der Komponist neben Johannes Brahms und Helmut Lachenmann auch Depeche Mode, Black Sabbath, Miles Davis und Billie Eilish, wie er im OPERNFREUND-Interview verraten hat. Zur Faßbarkeit der Musik trägt die häufige Markierung des Pulses durch Schlagwerk und kräftige Bässe bei. Eine spätromantische Orchesterbesetzung wird mit dem Sound eines Synthesizers konfrontiert. Die postkatastrophische Stimmung auf der Bühne wird aus dem Orchestergraben heraus mit dunkler Grundierung versehen. Oft setzt Eichberg zusätzlich den Chor aus dem Off mit starken und dichten Klängen ein. Albert Horne hat nicht nur den Chor einstudiert, sondern auch am Dirigentenpult Orchester und Sänger sicher durch den Abend geführt.

Diese Partitur ist nichts für musiktheoretische Oberseminare. Sie ist auf Wirkung hin komponiert. Ist das jetzt die „überraschende, heutige Musik“, die der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg im OPERNFREUND-Interview so dringend gefordert hat? Musik, die man „singen, fühlen, meinetwegen mittrommeln kann“? Beim Premierenpublikum jedenfalls ist sie auf einhellige Zustimmung gestoßen. Es hat alle Beteiligten gleichermaßen gefeiert und hätte auch noch ein wenig länger applaudiert, wenn nicht der letzte Vorhang schon allzu früh gefallen wäre.

Michael Demel, 23. Februar 2023


Søren Nils Eichberg: Oryx and Crake

Libretto von Hannah Dügben nach dem gleichnamigen Roman von Margaret Atwood

Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Bericht von der Uraufführung am 18. Februar 2023

Inszenierung und Bühnenbild: Daniela Kerck

Video: Astrid Steiner

Choreographie: Rosana Ribiero

Musikalische Leitung: Albert Horne

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

OPERNFREUND-Interview mit dem Komponisten anläßlich der Uraufführung

Trailer

Weitere Vorstellungen: 1., 11., 23. und 31. März sowie 16. und 21. April.