Premiere 16. September 2021
Kein deutsches Opernhaus würde auf die Idee kommen, den Beginn einer vierstündigen Oper für 20 Uhr anzusetzen. Nicht so an der Opera Royal im belgischen Liege, wo man Verdis „La Forza del Destino“ ungekürzt spielt und der Schlussakkord erst kurz vor Mitternacht erklingt. Aber auch sonst ist in Liege vieles anders: Zwar gelten auch hier die 3G-Regeln, aber der Zuschauerraum ist voll besetzt und am Platz darf man die Gesichtsmaske abnehmen. Ist das nun das Leben mit Corona, an das man sich gewöhnen muss oder purer Leichtsinn? Viele deutsche Operntouristen sind jedoch vorsichtig und behalten ihre Maske während der Aufführung an.
Ungewöhnlich ist natürlich auch die Opern-Opulenz, die in Liege geboten wird: Das beginnt bei dem prachtvollen Zuschauerraum und erstreckt sich weiter auf die Bühne, wo Ausstatter Gary McCann Verdis Oper in acht großformatigen Bühnenbildern spielen lässt. Solch eine Pracht bekommt man an deutschen Opernhäusern kaum noch geboten. Das erste Bild spielt in einem holzvertäfelten Rittersaal, der an einen Edgar-Wallace-Film erinnert. Später werden ein prunkvolles Kirchenportal, ein malerischer Dorfplatz, und eine poetisch zerbombte Stadt gezeigt. Was will das Auge mehr?
Eigentlich wollte der im Februar verstorbene Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera die Regie übernehmen. Nun hat Choreograph Gianni Santucci die Regie übernommen und setzt dabei das Konzept des verstorbenen Intendanten um. Große Stimmen, schöne Bilder und eine verständlich erzählte Geschichte stehen hier im Zentrum. Eine tiefergehende Psychologisierung, Hinterfragung und Interpretation der Geschichte gibt es nicht.
Dafür gibt es aber starke Stimmen zu erleben: Maria José Siri singt die Leonore mit großer Stimme, die sie aber sehr differenziert einsetzt. Marcelo Álvarez, der ihren Liebhaber Alvaro singt, verfügt über keinen strahlenden, aber über einen schneidigen und durchsetzungsfähigen Tenor. Er neigt jedoch dazu jede Phrase mit einer Geste zu unterstreichen, was die Figur albern wirken lässt und von seinem Gesang ablenkt. Einen großen und wohlgerundeten Bariton besitzt Simone Piazzola als Leonoras Bruder Don Carlo. Er setzt seine Stimme sehr schattierungsreich ein, klingt mal wie ein finsterer Bösewicht, besitzt aber auch weiche und freundliche Farben.
Auch die Nebenrollen sind treffend besetzt: Michele Pertusi ist ein mächtig orgelnder Padre Guardiano. Nino Surguladze kann als Preziosilla mit ihrem kräftigen Mezzo ein schlagkräftiges „Rataplan“ anstimmen, und Enrico Marabelli zeigt als Frau Melitone einige komödiantische Kabinettstückchen. Jedoch merkt man, dass diese Oper viele Genre–Szenen enthält, welche ohne die Hauptfiguren auskommen und die Handlung nicht voranbringen. Selbst die Szene, in der Leonora mit einem großen Ritual in das Kloster aufgenommen wird, erweist sich, trotz schöner Musik, als inhaltlich überflüssig.
Dirigent der Aufführung ist Renato Palumbo, den man in Deutschland vor allem als unglücklichen Kurz-GMD der Deutschen Oper Berlin kennt (2006-2008). In Liege zeigt er aber, dass ihm Verdi eine Herzensangelegenheit ist. Die Ouvertüre und die großen Chorszenen dirigiert er mit Feuer. Die lyrischen Arien und Szenen kostet er aber auch genüsslich aus.– Insgesamt bietet diese Produktion packende Musik, starke Stimmen und schöne Bilder, hat dabei aber auch einige szenische Längen.
Zwar hat man in Liege mit Stefano Pace bereits einen neuen Intendanten gefunden, doch die gerade beginnende Saison, ist noch von Stefano Mazzonis di Pralafera geplant worden, der die Opera Royal seit 2007 leitete. Der verstorbene Intendant verstand sein Theater immer als „Das nördlichste Opernhaus Italiens“, was sich nicht nur in den traditionellen Inszenierungen zeigt, die hier geboten werden, sondern auch in der Spielplangestaltung. Die Oper begann für Mazzonis mit Mozart und Gluck und endete mit Puccini. Barockes oder Modernes war bei ihm nie oder nur in Ausnahmefällen zu sehen. Stattdessen stand die große italienische Oper im Mittelpunkt. Das ist auch in der aktuellen Saison der Fall, wo es von der Verdi auch noch „Rigoletto“ (ab 3. März 2022) und „Simone Boccanegra“ (ab 17. Juni 2022) geben wird.
In die Reihe der Raritäten von Rossini, Donizetti und Bellini reiht sich in der kommenden Saison auch Rossinis „Otello“ (ab 19. Dezember 2021) ein. Als selten gespielte Werke stehen Umberto Giordanos „Mese Mariano“, die mit Puccins „Suor Angelica“ kombiniert wird (ab 26. Januar 2022) und „Mignon“ von Ambroise Thomas (ab 1. April 2022) auf dem Spielplan. Die dynamische und international gefragte Chefdirigentin Speranza Scappucci wird in Liege neben Verdis „Simone Boccanegra“ auch Tschaikowskys „Eugen Onegin“ (ab 22. Oktober 2021) und Donizettis „Lucia di Lammermoor“ (ab 19. November 2021) leiten. Bei der Donizetti-Oper handelt es um die Wiederaufnahme einer Inszenierung von Stefano Mazzonis di Pralafera aus dem Jahr 2015.
Rudolf Hermes, 20.9.2021
Fotos © Opéra Royal de Wallonie-Liège