Premiere: 7. 11. 2013
Märchenhandlung und Sozialstudie
Rechtzeitig zur bevorstehenden Advents- und Weihnachtszeit präsentierte das Theater Ulm eine Neuinszenierung von Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ und konnte damit einen vollen Erfolg für sich verbuchen. Der herzliche Schlussapplaus des begeisterten Publikums, unter dem seltsamerweise keine Kinder zu entdecken waren, belegte, dass das Dargebotene in jeder Hinsicht auf großes Gefallen gestoßen war.
Das begann schon bei der gelungenen Inszenierung von Benjamin Künzel, die für alle Geschmäcker etwas bereit hielt. Zusammen mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Mona Hapke vermied der Regisseur jegliche Überbetonung sowohl der traditionellen als auch der zeitgenössischen Elemente und ließ sie gleichberechtigt nebeneinander herlaufen. Das aus dieser Vorgehensweise resultierende Stilgemisch war recht ansprechend. Künzel ist das Kunststück gelungen, die Märchenhandlung einerseits kindgerecht in schönen Bildern auf die Bühne zu bringen, andererseits aber auch dem modern eingestellten Intellekt etwas zu bieten, was seine Auseinandersetzung mit dem Werk vielschichtig und abwechslungsreich erscheinen ließ.
Neben den märchenhaften Bezügen sind es insbesondere die sozialkritischen Aspekte der Handlung, die er einer eingehenden Beleuchtung unterzieht. Auf den Hauptvorhang sind zahlreiche Lebensmittel sowie Bestecke aufgemalt, die Hänsel frustriert überschmiert. Nach Essen drängt, am Essen hängt doch alles. Hunger ist ein Thema von globaler Relevanz. Daran lässt der Regisseur keinen Zweifel aufkommen. Gleichzeitig setzt er ein großes Fragezeichen hinter das Verhalten der zielstrebig in die gehobene Mittelklasse aufstrebenden Eltern, die augenscheinlich genug Geld in der Tasche haben, um ihre gutbürgerliche Kleidung zu finanzieren, ihre Kinder aber hungern lassen. Sehr stimmig ist es, wenn Künzel bei der Pantomime am Endes des zweiten Aufzuges sieben Elternpaaren die Rolle der vierzehn Schutzengel zuweist. Genau darin besteht die Funktion von Gertrud und Peter, nämlich ihre Kinder zu schützen. Bereits zuvor sah man den Besenbinder und seine Frau in Form von Doubles nach Hänsel und Gretel suchen. Dabei waren sie den Vermissten oft sehr nahe gekommen, ohne sie zu bemerken.
Bereits während des zweiten Bildes sind die Geschwister in Künzels Deutung in das Visier der Hexe geraten, der der Regisseur bereits hier einen kurzen Auftritt gönnt. Unter der Maske und im Kostüm einer recht gediegen wirkenden älteren Bürgersfrau mit Handtasche streift sie durch den Wald und lässt sich von einem ihre bösen Absichten unterstützenden Müllmann als Gehilfen immer neue Opfer zuführen. Dieser nährt sich den Kindern bei stets unverändertem Outfit sowohl als Sand- als auch als Taumännchen und weicht nicht mehr von ihrer Seite. Schließlich schläft er mit ihnen auf einer Truhe ein. In der Folge ist es der Hexe ganzes Bestreben, ihre künftigen potentiellen Opfer ihrer opulenten, abenteuerlich anmutenden Kuchenfabrikationsmaschine mit Räderwerk, Schläuchen und einer Hypnosescheibe mit integriertem transparentem Backofen einzuverleiben. Als Lockmittel dazu dient ein kleines Miniaturknusperhäuschen, das von dem Müllmann extra für die Kinder so in einem Mülleimer zurückgelassen wird, dass sie es finden können. Das tun sie dann auch und gelangen damit in die Fänge der Hexe, die nun ihr wahres Gesicht nicht mehr länger zu verbergen braucht. In dem äußerst vergnüglich in Szene gesetzten Hexenritt reißt sie sich die elegante Perücke vom Kopf und die Ärmel ihres Oberteils ab. Schlussendlich entledigt sie sich noch ihres Rockes und bestreitet den Rest des Abends in einer ausladenden roten Unterhose – ein Fakt, der die Lachmuskeln des Auditoriums nachhaltig reizte. An die Stelle ihres Zauberstabes tritt eine magische Kugel. Am Ende mutiert sie, nachdem sie im Backofen ihr verdientes Ende gefunden hat, zu einem rot-blauen Ball. An die Stelle der Lebkuchenkinder tritt hier eine Schar salopp gekleideter älterer Frauen und Männer, denen Hänsel und Gretel Erlösung bringen. Das war alles durchaus überzeugend sowie lebendig und elanreich umgesetzt.
Am Pult stand der neue Erste Kapellmeister Daniel Montané, der am Ulmer Theater jetzt erstmals eine Premiere übernommen hatte und durchaus zu beeindrucken vermochte. Unter seiner versierten Leitung spielte das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm, dessen Niveau sich in der letzten Zeit deutlich verbessert hat, intensiv und klangschön und setzte die Intentionen des Dirigenten trefflich um. Diesem ging es nicht um eine Betonung besonders herausragender Aspekte, sondern um ein ausgewogenes Ganzes. So überbewertete er weder die Wagnernähe noch das Volksliedhafte von Humperdincks vielschichtiger Partitur, die er in raschen Tempi farbenreich und einfühlsam interpretierte. Leider kam es während des Vorspiels zu zwei kleinen Unebenheiten bei den Musikern. Das dürfte indes auf die Premierennervösität der Spieler zurückzuführen sein und tut der insgesamt recht beachtlichen Gesamtleistung des Orchesters keinen Abbruch.
Auch die Sänger schnitten fast durchweg gut ab. Edith Lorans war eine einfach süß anzusehende, blondzöpfige und munter agierende Gretel, die ihrer Rolle mit in jeder Lage gut durchgebildetem, frischem und locker geführtem Sopran auch stimmlich voll entsprach. Nicht minder beeindruckend war I Chiao Shih, die mit ebenfalls bestens focussiertem, tiefgründigem Mezzosopran einen ziemlich burschikosen Hänsel sang. Frauke Willimczik vermochte rein darstellerisch die Sorgen und Nöte der Gertrud anrührend zu vermitteln und sie auch vokal mit ihrem vorbildlich verankertem, markantem Mezzo glaubhaft zu machen. Leider machte sie im ersten Akt bei der Stelle „Sonst hau ich euch“ einen großen Bogen um das von Humperdinck hier verlangte hohe ‚h’ und ging stattdessen nur auf das ‚fis’. Neben ihr war Tomasz Kaluzny ein robust und insgesamt mit solider Stütze seines Baritons intonierender Besenbinder. Mit vorbildlicher Verankerung ihres hübschen Soprans gab Maria Rosendorfsky das Sand- und das Taumännchen. Zumindest schauspielerisch hinterließ die Hexe von Hans-Günther Dotzauer einen hervorragenden Eindruck. Gesanglich blieben aber aufgrund der reichlich dünnen Tongebung des Tenors einige Wünsche offen. Gut gefiel der von Hendrik Haas einstudierte Opernchor des Theaters Ulm
Fazit: Das war gelungene Oper für die ganze Familie. Ein Besuch der Aufführung ist durchaus zu empfehlen.
Ludwig Steinbach, 8. 11. 2013
Die Bilder stammen von Martin Kaufhold.