Frankfurt: „Aida“, Giuseppe Verdi (zweite Besprechung)

Kaum ein Regieschaffender wird heutzutage noch eine pompös folkloristische Aida-Inszenierung ins Auge fassen. So auch Lydia Steier nicht, die für die Oper Frankfurt ihre vor ein paar Jahren für Heidelberg entstandene Aida auch aus dem Blick auf die aktuellen Kriege und Konflikte neu überarbeitete. Damals, so sagt sie im Programmheft, bestand – zur Zeit des arabischen Frühlings – noch ein Funken Hoffnung für die Welt. Dieser ist nun für sie angesichts der vielen Kriege auf diesem Planeten gänzlich erloschen.

(c) Barbara Aumüller

Wir befinden uns in einem Bunker in den 30er Jahren, Schimmel überzieht die ehemals weißen Fliesen, es herrscht eine szenische Tristesse, die bedrückend ist – und sich im Verlauf des Abends auch nie aufhellen wird. Denn der praktisch einzige Schmuck im Raum sind die Art Deco Wandlampen, die allerdings kaum je brennen, erst zum Ende hin verströmen sie etwas warmes Licht. Einzig die Reflektionen des Wassers im Innenpool lassen im Nil-Akt etwas Poesie aufschimmern. Das schwermütig stimmende, aber großartig funktionale und beeindruckende Bühnenbild hat Katharina Schlupf entworfen. In diesem Bunker lebt die Siegermacht, eine erbärmliche theokratische Gesellschaft aus reich mit Tapferkeitsmedaillen dekorierten alten Männern, alle invalid im Rollstuhl oder mit Rollator unterwegs, an Sauerstoffgeräten hängend. Aber immer noch munter „Guerra, Guerra“ krakeelend. Es ist zum Kotzen. Ihre Frauen sind nicht minder schlimm: In teuren Abendgarderoben kippen sie ausgelassen Sekt über die armen äthiopischen Gefangen, versetzen ihnen Tritte und haben nur überhebliche Verachtung für die Gepeinigten übrig. Man ekelt sich.

Siegfried Zoller hat diese operettenhaft lächerlichen, aber überaus treffend zur Gesamtkonzeption passenden Kostüme entworfen. Das fahle Licht konzipierte Joachim Klein, der die Bühne während eingefrorener Szene auch mal giftgrün oder pink ausleuchtet. Pink scheint eine Lieblingsfarbe von Lydia Steier zu sein. In ihrer Frau ohne Schatten an Ostern in Baden-Baden tauchte diese Farbe ebenfalls sehr dominant auf. Hier sind die äthiopischen Sklavinnen der Amneris, also auch Aida, in rosarote, uniforme Kleider gesteckt, alle tragen als Haarpracht schwarze Kurzhaar-Bob-Perücken, denn ihre eigenen Haare wurden ihnen abgeschnitten. Dazu später mehr. Zwischen den Bildern eins und zwei im zweiten Akt, also kurz vor dem Triumphmarsch, schließt sich der schwarze Zwischenvorhang, das Licht im Orchestergraben erlischt und aus Lautsprechern ertönt Schlachtengetöse, Granaten explodieren, Maschinengewehr-Salven und Fliegeralarm lassen Ungutes ahnen.

(c) Barbara Aumüller

Im Parkett schreit ein Herr: „Das ist kein Verdi, das ist scheisse!“ Nein, guter Mann, das ist Verdi, denn er hat mit der Aida eben gerade den Krieg verurteilt, indem er die zerstörerischen Auswirkungen des Krieges auf die Menschen und die Liebe thematisiert hatte. Klar, Lydia Steier zeigt das manchmal mit allzu schonungsloser Drastik. Aber Theater darf und soll auch mal provozieren und aufrütteln. Kulinarisch genießen und zurücklehnen können wir uns anderswo.

Nach dem Lärm aus den Lautsprechern wird der Triumphmarsch zum schrecklichen, perversen Spektakel, welches das Schlimmste im Menschen hervorruft: Andere zur eigenen Ergötzung zu demütigen und zu misshandeln. Hier kommen die Elefanten ins Spiel: Eine Tänzerin mit buntem Elefantenkopf tritt auf, die bis auf die Unterwäsche entkleideten Äthiopier kriegen graue Elefantenmützen über den Kopf gestülpt, werden mit Drogen vollgepumpt – einer stirbt gleich an Überdosis. Das alles ist hart an der Grenze des Erträglichen, aber handwerklich sehr versiert inszeniert. Immer wieder bringt Lydia Steier Anspielungen auf die ägyptische Mythologie ins Spiel, der Gott Horus, dieser Falke, tritt in Visionen mit blutigem Schnabel und blutigen Krallen auf, lockt Kinder in sein Nest. Weiteres Kanonenfutter.

(c) Barbara Aumüller

Sehr prominent im Zentrum der Aufführung steht Ramfis, der Oberpriester. In den meisten anderen Produktionen der Aida, die ich gesehen habe, ist er eine religiös-fanatische Kriegsgurgel. Nicht so hier in Frankfurt: Ramfis ist von Gewissensbissen gepeinigt, hält das ganze Debakel im Bunker nur noch dank der Einnahme von Drogen aus. Zwar spielt er noch die ihm vom debilen König (Kihwan Sim mit imponierendem Bass) aufoktroyierten Pflichten, allerdings mit größtem Widerwillen. Wenn ihm alles zuviel wird, knallt er der unerbittlichen Amneris auch schon mal eine. Andreas Bauer Kanabas spielt und singt diesen zutiefst gebrochenen Charakter mit grandiosem Einfühlungsvermögen in die Zerrissenheit seiner Seele.

So kommt einem diese ägyptische Pharaonentochter Amneris vor: Mit platinblonder Perücke ist sie äußerlich ein Vamp, würde der Monroe oder Mae West zur Ehre gereichen, psychisch ist sie ein perverses, despotisches und falsches Weib, ein Wrack. Ihren Sklavinnen lässt sie die Haarpracht abschneiden, dann werden die Haare platinblond gefärbt und zu Perücken verarbeitet. In den Vitrinen stehen schon mehrere Dutzende dieser Perücken auf Kunststoff-Köpfen. Wenn eine der Sklavinnen nicht pariert oder einen Fehler macht, wird sie von Amneris kurzerhand mit der Brennschere erstochen.

Ein Vater, der neben mir saß, musste seiner kleinen Tochter mehrmals die Augen zuhalten. Überhaupt war ich erstaunt, wie viele Kinder in dieser Nachmittagsvorstellung saßen. Informieren sich die Eltern nicht mehr, wohin sie die Kinder mitnehmen sollen und wohin eher nicht? Wie dem auch sei, Claudia Mahnke lebt die – so angelegt – noch schwierigere Rolle mit grandioser Durchdringung des abscheulichen Charakters bis in die morbidesten Verästelungen hinein. Sie macht sich auch noch an der Leiche Amonasros zu schaffen – warum die Figur nun auch noch nekrophile Lüste zeigte, blieb mir ein Rätsel. Total kaputt eben, nachdem selbst das mit der Liebe nicht funktioniert hatte. Gesanglich gestaltet Frau Mahnke sehr differenziert, mit keiner Spur brustigen Röhrens, wie man es oft serviert bekommt.

Vor 42 Jahren erlebte die Oper Frankfurt mit der letzten Inszenierung dieser Oper einen praktisch weltweit Wellen werfenden „Skandal“: Hans Neuenfels‘ Inszenierung wurde als Paradebeispiel des so genannten Regietheaters kontrovers diskutiert. Er hatte Aida als Putzfrau auftreten lassen. Als kleine Referenz an ihren Regie-Kollegen schrubbt Aida hier bei Lydia Steier während der Ouvertüre den Folterraum, in dem sie drei Stunden später den Tod finden soll. Sie ist die einzige „normal“ empfindende Person der Oper, empathisch, verliebt, aufopferungsbereit. Stimmlich hätte ich gerne noch einen Hauch Wärme vernommen, aber Ekaterina Sannikova (für Guanqun Yu eingesprungen, die sich während der Premiere schwer verletzte) sang sehr sicher, ihr standen in der Nilarie auch zarte Töne zur Verfügung. Von der Lautstärke her konnte sie ausgezeichnet mit Radamès mithalten.

Dieser Radamès ist eigentlich ein netter, aber etwas unbedarfter Kerl. Er betätigt sich als „Mann für alles“ in dieser dekadenten Gesellschaft, verlegt zum Beispiel die Fliesen rund um den Indoor-Pool. Noch glaubt er an den Endsieg, ja träumt gar davon Heerführer zu werden in dieser letzten Schlacht, die angeblich geschlagen werden muss. Als er dann auserkoren wird, freut er sich wie ein Kind auf die neue, maßgeschneiderte Uniform – und kassiert dafür von Ramfis prompt eine Ohrfeige. Der Messagero leidet an Drogenentzug, kann seine Botschaft kaum mehr artikulieren. Einer der alten Männer übersetzt, aber wahrscheinlich nicht die originale Nachricht (Kudaibergen Abildin singt die kurze Phrase großartig), dann wird der Messagero flugs vom harlekinartigen Henker/Folterknecht mittels Todesspritze/Überdosis ins Jenseits befördert. Auch Radamès braucht nach seinem erfolgreichen Feldzug erst mal eine Dosis Aufputschmittel, um das Grauen des Krieges zu ertragen. Das macht ihn nicht nur fidel, sondern auch mutig. Er setzt sich für die Gefangenen ein, reißt ihnen die dämlichen Elefantenmützen vom Kopf, gibt ihnen ein wenig Würde zurück.

Stefano La Colla verströmt sicher intonierten Wohllaut mit seiner voluminösen Stimme, attackiert und erreicht mühelos die strahlenden Spitzentöne, bei „Celeste Aida“ halt im Fortissimo. Er klingt klar und sauber, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen im Schlussduett mit Aida in der Folterkammer. Eine kerngesunde Stimme, der man gerne zuhört und ein überzeugender Darsteller, gerade auch in der Rolle des naiven Hausmeisters zu Beginn.

(c) Barbara Aumüller

Als Aidas Vater Amonasro trumpft Nicholas Brownlee ganz groß auf. Was für eine gewaltige Baritonstimme ist da zu erleben, voluminöser und restlos begeisternder Wohlklang von packender Wucht! Am Ende des dritten Aktes wird er von Radamès erschossen und muss nun während des gesamten vierten Aktes im seichten Pool liegen. Hoffentlich erkältet er sich nicht, das wäre ein zu hoher Preis nur um Amneris‘ morbiden Lüsten zu genügen.

Erik Nielsen am Pult des sehr farbenreich spielenden Frankfurter Opern- und Museums Orchesters leitet die Aufführung mit großer Umsicht und achtet auf die klangliche Balance. Das ist nie allzu reißerisch, sondern stets von ausgewogener Transparenz. Stimmig! Der Chor und der Extrachor der Oper Frankfurt leisten klanglich und darstellerisch Überwältigendes.

Nachdem sich Ramfis bereits im ersten Akt die Ohren während des scheinheilig verklärenden Gesangs der Priesterin zugehalten hatte (Monika Buczkowska, die gestern noch die Martha sang, intonierte das hinreißend aus dem Off) und er zur Einleitung des Nil-Aktes gar in einer Vision eine Art Marienerscheinung hatte, brachte er die geistig nun völlig abgedriftete Amneris mit einer Überdosis um. Knapp konnte die noch das „Pace t’imploro“ hauchen, dann verstarb sie. Zum Fallen des Vorhangs hält sich Ramfis die Pistole an die Schläfe.

Lydia Steier hat einen spannenden, kontroverse Reaktionen hervorrufenden Opernabend gestaltet. An manchen Stellen für meinen Geschmack vielleicht etwas zu dick oder zu verrätselt aufgetragen. Eine Regisseurin sollte sich immer vor Augen halten, dass das Publikum nicht die vollständige Konzeption kennen kann und eventuell auch das informative Programmheft nicht vor der Vorstellung zu lesen gewillt ist. Um Rätsel entwirren zu müssen, ist Aida zu schade. Aber das nur am Rande. Als Gesamterlebnis fand ich’s hoch interessant.

Kaspar Sannemann, 19. Dezember 2023


Aida
Opera lirica von Giuseppe Verdi

Oper Frankfurt

Premiere am 3. Dezember 2023
Besuchte Aufführung: 17. Dezember 2023

Inszenierung: Lydia Steier
Musikalische Leitung: Erik Nielsen
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer