Ob Beethovens einzige Oper mit der immer wieder hoffnungsfroh stimmenden idealistischen Utopie der Befreiung von Willkür und Gewaltherrschaft wirklich eine Aktualisierung braucht, die die Botschaft des Werks verdeutlicht, bezweifle ich. Jedenfalls ist dies mit der Magdeburger Neuinszenierung nicht gelungen. Wie vorab angekündigt und im Programmheft ausgeführt, nehmen die Regisseurin Ilaria Lanzino und ihr Team „humorvoll-satirisch“ unbequeme Wahrheiten der Gegenwart aufs Korn: Die westliche Konsumgesellschaft verdränge, dass ihr Lebensstil auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung beruht und die Menschheit-bedrohende Klimakatastrophe immer näher kommt. Gleich zu Beginn der schwungvoll musizierten Ouvertüre wird deutlich, was die italienische Regisseurin will: Auf der Bühne stehen Menschen mit Augenbinden in knallbunter Kleidung mit farblich entsprechenden Einkaufstaschen, die sich auf Zeichen des in der ersten Parkett-Reihe stehenden Don Pizarro marionettenhaft bewegen. Leonore im weißen Kittel trägt ein Plakat mit der Botschaft „Die Erde brennt!“, ist also eine Klima-Aktivistin.
Als Florestan in der spannend gestalteten Kerkerszene befreit ist, tritt in der ersten Parkett-Reihe der Minister Don Fernando als eine göttliche Erscheinung auf (Gottvater selbst oder Jesus?), die dem Publikum ein Pappplakat mit der Aufschrift „Ihr habt‘s verbockt“ und auf der Rückseite „Bis gleich“ zeigt. Hinter ihm kann man das Wort aus der Offenbarung des Johannes 9,4 lesen, das auch am Schluss wieder erscheint: „Sie sollen nicht Schaden tun dem Gras auf Erden noch allem Grünen noch irgendeinem Baum.“ Anschließend zu Beginn des großen, „choreografisch und humoristisch aufgebrochenen“ (I. Lanzino) Finales steht Don Fernando im Hintergrund und segnet die wieder in bunter Kleidung auf der Bühne erschienenen Menschen. Dann schlagen Blitze ein, dunkler Rauch steigt auf und alle fallen zu Boden. Als es wieder hell wird, tanzen alle fröhlich in choreografischen Einheitsbewegungen nach „Wer ein solches Weib errungen, stimm‘ in unsern Jubel ein!“. Das soll offenbar ein Feiern im Himmel sein, was man an den Engelchen auf hoch gehaltenen Wolken sieht. So zieht sich die Veralberung durch die ganze Oper, wenn man beispielsweise auf das geradezu chaotische Bühnenbild von Martin Hickmann blickt, in dem ein Aktenschrank schräg, ein breites Bett senkrecht oder die Sitzgarnitur um 90 Grad gedreht stehen. Allzu unwirklich geriet der klanglich unausgewogene Gefangenenchor, indem abgerissene Gestalten, dabei auch Frauen und Kinder, in den Raum eindrangen und nach Kleidung und Essbarem suchten. Zur Veralberung der Story gehörte auch die aberwitzige, absurd-satirische Kostümierung (Vanessa Rust) von Don Pizarro, Rocco, Marzelline und Jaquino. Schließlich agierten im 1. Akt alle in ihren Comic-Strip-Kostümen mit lächerlicher Bewegungschoreografie, sodass z.B. das so eindringliche „Mir ist so wunderbar“ zur bloßen Slapstick-Nummer verkam.
Insgesamt hat die Regisseurin mit ihrem Team der utopischen Story das Klima-Thema gewaltsam aufoktroyiert und ist auf diese Weise dem sehr ernst zu nehmenden Menschheitsproblem nicht gerecht geworden!
Wieder einmal musste man sich in einem Opernhaus bemühen, sich von den Albernheiten auf der Bühne nicht ablenken zu lassen. Das fiel allerdings nicht schwer, weil die musikalische Verwirklichung in Magdeburg im Ganzen gelungen war. Das lag ganz wesentlich an der souveränen Generalmusikdirektorin Anna Skryleva, die den großen Apparat gut im Griff hatte und mit präziser Zeichengebung die ausgezeichnete Magdeburgische Philharmonie dazu brachte, die vielfältigen Stimmungen intensiv auszukosten. Aus dem Gesangsensemble ist an erster Stelle die in Magdeburg durch verschiedene Rollengestaltungen in guter Erinnerung gebliebene Raffaela Lintl als Leonore zu nennen. Zu Beginn mit weißblonder Perücke nicht unbedingt zu erkennen, dass sie als Mann verkleidet sein sollte, gestaltete sie die mutige Frau darstellerisch und stimmlich ausgesprochen ausdrucksstark. Besonders in ihrer großen Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ gemeinsam mit den exzellenten Horn-Soli bewährte sich ihr starker, höhensicherer Sopran, der im lyrische Teil auch zu der nötigen Ruhe fand. Ihr Florestan war dem Gast Tilmann Unger anvertraut, der seinen strahlkräftigen Tenor präsent einsetzte.
Der Bass mit dem raumgreifenden, individuellen Timbre von Johannes Stermann passte gut zum Kerkermeister Rocco, der als einziger am Schluss etwas Empathie mit Florestan und Leonore spüren ließ. Der Gast von der Wiener Volksoper Morten Frank Larsen musste den Don Pizarro als – wenn auch gefährliche – Witzfigur geben. Seinem hellen Bariton fehlte es leider an Tiefe und dramatischer Durchschlagskraft. Mit feinem, sauberem Sopran war Na’ama Shulman Marzelline, die von Adrian Domarecki als Jaquino auffallend stimmstark umworben wurde. Mit bekannter Sonorität war Giorgi Mtchedlishvili der Minister Don Fernando. Im Finale ließen der Opernchor und die Magdeburger Singakademie mächtigen, diesmal ausgewogenen Chorklang hören (Einstudierung: Martin Wagner).
Das Premierenpublikum im so gut wie ausverkauften Haus belohnte alle Mitwirkenden mit starkem Beifall, der beim Regieteam deutlich abnahm, das sich außerdem einige Buhs gefallen lassen musste.
Gerhard Eckels, 6. Mai 2024
Fidelio
Ludwig van Beethoven
Theater Magdeburg
Premiere am 4. Mai 2024
Regie: Ilaria Lanzino
Musikalische Leitung: Anna Skryleva
Magdeburgische Philharmonie
Weitere Vorstellungen: 12., 20. Mai + 2. Juni 2024