Bonn: Tops und Flops – „Bilanz der Saison 2024/25“

Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.

Nach der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg blicken wir heute auf das Theater Bonn.


Das Bonner Opernhaus am Boeselagerhof liegt ideal wie eine Skulptur direkt am Rhein. Das Rheinufer wird dort gerade von Autos befreit und zur Stadt hin geöffnet, nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch unter der Leitung von Rose Bartmer, Stellvertretender Generalintendantin und Direktorin für Vermittlung, Diversität & Transformation für Personengruppen, die man in der Oper eher nicht erwartet. Das Haus, in dem auch die Sinfoniekonzerte des Beethovenorchesters und die Reihen „Quatsch keine Oper“ und „Highlights des internationalen Tanzes“ stattfinden, hat sich in der vergangenen Spielzeit noch stärker in die Stadtgesellschaft geöffnet. Beleg dafür ist zum Beispiel Vespertine mit einem arrangierten Pop-Album von Björk, das als Geschichte einer einsamen Polarforscherin bebildert wurde. Dazu kam als Uraufführung die Familienoper Die blaue Sau von Anno Schreier, bei der die drei Schulvorstellungen am Vormittag ausverkauft waren – ein Beweis für die erfolgreiche Theaterpädagogik. Brechts Dreigroschenoper, eigentlich Produktion des Schauspiels, wurde im erheblich größeren Opernhaus gezeigt, und das Musical Hairspray war 19 mal ausverkauft. Bereits im Dezember 2025 freute sich Generalintendant Dr. Bernd Helmich über die höchste Auslastung des Hauses seit mehr als 10 Jahren.

Beste Produktion war aus meiner Sicht Die Meistersinger von Nürnberg, mit der GMD Dirk Kaftan am 3. Oktober 2024 die Spielzeit eröffnete. Wie Aaron Stiehl und sein Team die Handlung in die frühe Nachkriegszeit verlegte und Beckmesser als gescheiterten Prinz Karneval darstellte, der von einem frühen Hippie in den Schatten gestellt wurde, war nicht nur eine deftige Komödie, sondern auch ein Bekenntnis zur Demokratie. Hier agierten alle Darstellerinnen und Darsteller glaubhaft als echte Menschen, und es war eine Leistungsschau des Hauses, in der nur wenige Partien mit Gästen, unter anderem mit Publikumsliebling Mirko Roschkowski als Stolzing und Anna Princeva als Eva besetzt waren.

Beste Gesangsleistung und Rollengestaltung bot Gastsänger Joachim Goltz als Beckmesser, der den Merker als ehrgeizigen, akribischen Beamten gab, mit dem sich viele identifizieren konnten.

Bestes Ensemblemitglied war Tobias Schabel als Hans Sachs. Er hat mit dieser Leistung den Zenit seines Rollenfachs erklommen und überzeugte mit seiner differenzierten Rollengestaltung des der Liebe zu Eva Entsagenden, des Vermittelnden, des Mahnenden, auf der ganzen Linie. Für mich ist sein Sachs ein vorbildlicher Demokrat, der durch Argumente überzeugt und für die Mitwirkung des Volkes bei Qualitätsbeurteilungen von Kunst plädiert.

Größte Enttäuschung war Tosca in der Galavorstellung am 3. Mai 2025. Gaststar Angela Georghiou hatte die Galavorstellung abgesagt, Ramon Vargas als Cavaradossi erfüllte die hohen Erwartungen des Publikums nicht. Besucher, die für diese Vorstellung Premierenpreise bezahlt hatten, waren mit Recht enttäuscht.

Entdeckung des Jahres: Musik für die Lebenden, die einzige Oper des georgischen Komponisten Gija Kantscheli, die er zusammen mit dem Librettisten Robert Sturua erarbeitete und 1984 in Tiflis erstmalig aufführte. Die äußerst bildstarke Inszenierung des russischen Regisseurs Maxim Didenko, die am 15. Juni 2025 Premiere hatte, hatte als groteske Vision von Kriegszerstörung und Weltuntergang eine ungeheure Aktualität. 

Nachwuchssängerin des Jahres ist für mich Nicole Wacker als frisch von der Hochschule kommender Page Oberto in Alcina, die sich in der Wiederaufnahme der Zauberflöte als ideale Königin der Nacht erwies und souverän die Hauptrolle in Vespertine ausfüllte und damit ihre Vielseitigkeit bewies.

Nachwuchssänger des Jahres ist Christopher Jähnig, der mit seinem echten tiefen Bass in fast jeder Produktion auftritt, zum Beispiel als Chirurg in Die Macht des Schicksals als Hermann Ortel in den Meistersingern und als Angelotti in Tosca. Auch in der von ihm gestalteten Liedsoiree konnte man erkennen, dass er ein großes Potential als Bass besitzt, dessen große Rollen erst noch kommen.

Als Gastdirigentin überzeugte Dorothee Oberlinger in Alcina, die absolut stilsicher Händels filigrane Musik dirigierte und selbst ein Flötensolo beitrug. Die Ensemblemitglieder Marie Heeschen als Alcina und Charlotte Quadt als Ruggiero bewiesen, dass man Barockopern auch aus dem Ensemble besetzen kann, und Regisseur Jens Daniel Herzog bewies, dass man sie zeitlos bebildern kann.

Die Meistersinger von Nürnberg sind wegen ihrer großen Chorszenen und ihrer problematischen Rezeptionsgeschichte ein äußerst schwer zu inszenierendes Repräsentationsstück. Beste Regie leistete aus meiner Sicht Aaron Stiehl mit einer Inszenierung, die den karnevalsversessenen Bonnern den Spiegel vorhielt und mit der Festwiese als Karnevalsaufzug andeutete, dass die Rheinländer im Karneval zeigen, wer sie sind. Der Erfolg gab ihm Recht: Die letzte Vorstellung war restlos ausverkauft.  

Donizettis Liebestrank, gerade 2023 noch in Köln in einem Strandbad gezeigt, hatte praktisch gar kein Bühnenbild: Joshua Helds Cartoons im Liebestrank, der als Comic bebildert auch dem Dirigenten Hermes Helfricht besondere Koordinationsleistungen abverlangte, überzeugte auf der ganzen Linie und machte den Plot für alle verständlich. Regisseurin Maren Schäfer wagte die Bebilderung als Cartoon mit Sprechblasen.

Beste Chorleistung: Kinder- und Jugendchor der Oper Bonn, der in Musik für die Lebenden mit erstaunlicher Präzision wesentliche Szenen bestritt und mit stilsicheren Solistinnen Betroffenheit erzeugte.

Größte Freude ist, dass die Beethovenhalle am 16. Dezember 2025 nach langer Sanierungszeit endlich wieder mit einem großen Konzert anlässlich Beethovens 255. Geburtstag eröffnet wird. Mindestens genau so groß ist die Freude über das Bekenntnis der Oberbürgermeisterin Katja Dörner zum Erhalt des vor 60 Jahren als Repräsentationsstätte der Bonner Republik eröffneten Haus am Boeselagerhof, das, ähnlich wie die Beethovenhalle, denkmalgerecht saniert werden soll.


Die Bilanz zog Ursula Hartlapp-Lindemeyer.