Im Großteil der Vorstellungen übernimmt Anton Keremidtchiev die Rolle des Täufers – sein Jochanaan ist deutlich nahbarer als der von Bo Skovhus, der unter anderem in der Premiere gesungen hatte. Keremidtchievs Interpretation ist geprägt durch eine wärmere Stimmfärbung und auch schauspielerisch scheint hier eine größere Gefährdung der asketischen Härte durch: Jochanaan wankt im tiefsten Inneren und muß sich spürbar anstrengen, um sich gegen die Verführungsversuche der 16-jährigen Prinzessin zu behaupten.
Die singt Evmorfia Metaxaki mit spielerischer Leichtigkeit und jungweiblicher Fülle; sie verleiht der ganzen Biestigkeit und zugleich Verletzlichkeit dieses Mädchens, das zu weit gegangen ist, überzeugenden Ausdruck. Wolfgang Schwaninger als Herodes ist, bei allen unangenehmen Facetten dieses Charakters, vor allem in seiner Unsicherheit und Ängstlichkeit vor der göttlichen Rache fast schon sympathisch. Das ist keine platte Darstellung eines reinen Machtmenschen, sondern gut inszenierte und gespielte Psychologie.
Wenn man so eine schöne Stimme wie Edna Prochnik hat, dann gehört schon etwas dazu, so häßlich zu singen, um der Herodias die entsprechenden miesen Züge zu verleihen. Durch Alkohol und Kokain versucht sie sich von der Gewißheit abzulenken, daß sie als Mutter versagt hat und ihre Tochter nur instrumentalisiert, um ihre Bosheit durchzusetzen. Mitleid heischt tatsächlich Yoonki Baek als Narraboth, den unglücklich in die Prinzessin verliebten Hauptmann, dessen mitunter schluchzender Tenor seinen Warnungen eine geradezu flehende Innigkeit verleiht. Zu Herzen geht Friederike Schultens Page in der Darstellung tiefster Erschütterung angesichts der Bluttat – sie überbringt Salome das abgeschlagene Haupt in einem ihrer Netzstrümpfe.
Das Juden-Quintett während der Bankettszene ist ungeheuer anspruchsvoll, denn in hysterischer Diskussion jagt hier ein Standpunkt den anderen, der Text muß ebenso rasend schnell wie deutlich gesungen werden und das schaffen Gustavo Mordente Eda, Mark McConnell, Tomasz Mysliwiec, Swjatoslaw Martynchuk und Benedikt Al Daimi problemlos.
In dieser Familie liebt niemand den anderen, letztlich sind alle auf ihre Art einsam. Salomes Trauma ist darin begründet, daß ihre Mutter in ihrer Egomanie sie nie wirklich wahrgenommen hat – deswegen ist sie so geworden wie sie ist. Eigentlich sehnt sie sich nach Liebe, aber kann mit ihr nicht umgehen; sie hat sie ja nie wirklich erlebt. An ihre Stelle treten Gier und das maßlose Ausloten der eigenen Möglichkeiten. Die Einsicht, daß ihr der Weg zu einem wahrhaften, liebevollen Miteinander offenbar versperrt ist, führt zum Entschluß, sich das Leben zu nehmen.
Wie das geschieht und dann auch noch stimmig mit Herodes letztem Satz, „Man töte dieses Weib!“, der das Drama beschließt, übereingebracht wird, sei hier nicht verraten.
Diese ausgezeichnete Inszenierung ist unbedingt sehenswert.
Andreas Ströbl, 6. März 2023
Richard Strauss: Salome
Theater Lübeck
Premiere am 28. November 2022
Musikalische Leitung: Stefan Vladar
Inszenierung: Christiane Lutz
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Nächste Vorstellungen: 12. und 26. März sowie 8. April 2023 (Dernière)