Reisebilanz IV: Tops und Flops der „Saison 2024/25“

Meine Bilanz aus 27 Aufführungen an 13 Bühnen mit Werken von zehn Komponisten und vier Komponistinnen:

Lieblingsopernhaus:
Nicht zum ersten Mal war das Theater Hagen das von mir meistbesuchte. Am Ende der Amtszeiten von Intendant Francis Hüsers und GMD Joseph Trafton sei es stellvertretend für andere „Provinz“-Bühnen in dieser Rubrik genannt. Sie liefern zuverlässig engagierte Produktionen aus verschiedenen Epochen – hier ein spritziger Ritter Blaubart, eine wirklich große Oper mit Don Carlos und einer viel beachteten Uraufführung, American Mother –  mit Ensembles in einer guten Mischung aus jung und erfahren, Nachwuchsentdeckungen, Risiko zu neuen Stücken, unprätentiöser Atmosphäre (man ist leicht overdressed) und ständigem Kampf mit den Kulturämtern ihrer Stadt, die lieber volle Häuser mit leichter Unterhaltung finanzieren wollen.

Beste Produktionen (Gesamtleistung):
Es waren zu viele gute und wichtige Produktionen, um eine einzelne herauszugreifen. Besonders die neueren Stücke – Poul Ruders The Handmaid’s Tale am Theater Freiburg (Wiederaufnahme), Innocence von Kaija Saariaho in Gelsenkirchen (und anderswo) und American Mother von Charlotte Bray in Hagen beweisen die Lebendigkeit von Musiktheater dank aktueller Themen und anspruchsvoller, gleichzeitig ansprechender Musik. Auch die schon etwas älteren The Greek Passion und Die Passagierin konnten Publikum und Kritiker an mehreren Orten gleichermaßen in den Bann ziehen, ebenso A Streetcar Named Desire (Bielefeld).

Größte Enttäuschung:
Die Uraufführung von Gustav Holsts Sita in Saarbrücken. Der junge Komponist hatte sie 1906 als Wettbewerbsbeitrag eingereicht, war aber nicht erfolgreich. Vielleicht hat er es eingesehen und das Werk deshalb nicht noch einmal hervorgeholt. Der Komposition fehlt über weite Strecken die persönliche Handschrift. Holst wollte einfach zu viel von allem, was damals in der Musikwelt vorkam, verwenden. Zudem war die eher mutlose Inszenierung kaum geeignet, Interesse für das Sujet aus der indischen Mythologie zu wecken. Die Ausführenden schienen sich ihrer Sache nicht hundertprozentig sicher zu sein. Die durchaus engagierte Sängerin der Titelpartie, Ingegjerd Bagøien Moe, war zwei Tage später als hingebungsvolle Aida kaum wiederzuerkennen. Trotzdem Respekt für und Dank an das Saarländische Staatstheater, das Unternehmen überhaupt in Angriff genommen zu haben, denn nur so lässt sich das Bild des Komponisten abrunden und das Urteil fällen, ob ein Werk repertoiretauglich ist. Die Briten mögen das Werk freilich anders einordnen.

Entdeckung des Jahres:
The Wreckers von Ethel Smythe, gesehen in Karlsruhe. Bestes romantisches Musiktheater, interessanter Plot, gute Musik, viele Inszenierungsmöglichkeiten, somit hohe Repertoiretauglichkeit.

Beste Gesangsleistung (Hauptpartie):
a) Dušica Bijelić ist ein lyrisch-dramatischer Sopran am Theater Bielefeld. Sie verkörpert jede ihrer Rollen (hier: Blanche Dubois in Previns A Streetcar Named Desire) intensivmit schöner und warmer Stimme, sicher in allen Lagen, wandlungsfähig.

b) Der Tenor Klaus-Florian Vogt, der nicht mehr nur eine sehr individuelle, schöne Stimme besitzt, sondern Persönlichkeit ausstrahlt und die Rollen gestaltet; am Radio: der Bayreuther Siegfried, live: Parsifal in Wien. Er befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Möglichkeiten.

Beste Gesangsleistung (Nebenrolle):
Angela Davis
sang die Mutter des Attentäters in American Mother von Charlotte Bray in Hagen. Ansonsten ist die Sopranistin die „Allzweckwaffe“ des Ensembles und singt oft die Hauptrollen. Leidenschaftlich verkörpert sie jede Figur; ihre Stimme besitzt ein reiches Farbspektrum und einen großen Umfang. Dazu hat sie eine besondere Bühnenpräsenz – ein Naturtalent mit viel Herz und Humor!

Nachwuchssängerin des Jahres:
Caterina Meldolesi
als Elisabeth in Don Carlos am Theater Hagen. Sie strahlt in allen Lagen, besticht durch zarte, dennoch leuchtende Piani, ist zu großen dynamischen und emotionalen Steigerungen fähig und dennoch technisch stets lupenrein kontrolliert.

Bestes Dirigat:
Zum Ende seiner Dienstzeit als GMD des Theaters und Philharmonischen Orchesters Hagen muss Joseph Trafton gewürdigt werden. Das Orchester spielt unter ihm auf hohem Niveau und zuverlässig idiomatisch in allen Genres. Es verbindet Klangschönheit mit Ausdrucksstärke und agiert reaktionsschnell. Traftons Dirigate sind immer lebendig, aber uneitel, da dem jeweiligen Werk verpflichtet. Er hält die Balance in dem eher kleinen Haus, übertönt nicht die Sänger. Ihm sind Erfolge mit größeren Orchestern oder an größeren Opernhäusern zu wünschen!

Beste Regie:
Paul-Georg Dittrich
für seinen Troubadour an der Staatsoper Stuttgart. Ist zwar aus der vorigen Saison, aber in dieser gesehen und unübertroffen. Mein dritter Dittrich nach Tannhäuser in Essen und Elektra in Münster, die beide zu verkopft waren. Hier aber voller Lust, Temperament und plastischer Psychologisierung, rasanten Szenenwechseln und passender Visualisierung von Verdis leidenschaftlicher Musik.

Aus dieser Saison: Holger Potocki für Ritter Blaubart in Hagen.

Bestes Bühnenbild:
1. Das von Stefan Mayer gebaute und liebevoll ausgestattete Interieur von Stanley Kowalskis Arbeiterwohnung für André Previns A Streetcar Named Desire am Theater Bielefeld. Ebenso realistisch wie zweckdienlich. Und auf der Rückseite die überdimensionierte, glitzernde amerikanische Flagge, die, wie man derzeit in der Realität sehen kann, von denen angebetet wird, die nichts Wertvolleres anzubeten haben.

2. Immer noch faszinierend das von Johannes Leiacker vor 35 Jahren entworfene Einheitsbühnenbild für Hilsdorfs Essener Aida. Hier wird Unendlichkeit sichtbar! (Die Memphis Twins, die seinerzeit skandalös wirkten, sind auch immer noch sehr sehenswert.)

Beste Chorleistung:
Die Gemeinde der Markuskirche in Hannover anlässlich des Kirchentages. In Zusammenarbeit mit der Staatsoper Hannover wurde ein Operngottesdienst angeboten, der sich mit der aktuellen Produktion von The Greek Passion beschäftigte. Die Gemeinde durfte einige Chorpassagen nach kurzer Probe singen, was ihr trotz der großen Herausforderung überzeugend gelang. Anschließend wurde sie in den Kontext mit zwei Solisten eingebunden.

Größtes Ärgernis:
Auch scheinbar moderne Häuser kommen in die Jahre. Der Essener Karfreitags-Parsifal musste nach dem Vorspiel unterbrochen werden, weil der Vorhang sich nicht heben wollte, und die zweite Pause dehnte sich wegen eines technischen Problems auf 40 Minuten aus. Später, bei Aida, klemmte kurz der Zwischenvorhang. Das Aalto-Theater ist 37 Jahre alt.


Es reiste für Sie Bernhard Stoelzel.