Paris: „La forza del destino“, Giuseppe Verdi

Ein Weihnachtsgeschenk: wunderbare Musik, stimmige Inszenierung und wundervolle Sänger mit einer Anna Netrebko, die ein vieldeutiges „Pace, pace“ sang.

Es scheint wie ein Weihnachtsmärchen: zwei Monate nach der verstörenden „Salome“ (deutsches Regie-Theater mit dem Schleiertanz als Massen-Vergewaltigung und ein mittelmäßig spielendes Orchester mit einer schlechten Dirigentin), nun ein wunderschöner Abend an dem alles stimmte und das Publikum neue Rekorde aufstellte in punkto Szenenapplaus und Jubelrufe. Das ist auch das Positive an den vielen Wieder-Aufnahmen dieser Spielzeit: es kommt auch Schönes aus der so genannten „Mottenkiste“. Dazu gehört die Inszenierung von Jean-Claude Auvray von Verdis in Paris eher selten gespielten „La forza del destino“: Sie ging 2011 eher unbeachtet in Premiere und wurde 2019 für Anja Harteros wiederaufgenommen – und jetzt kommt man aus dem Staunen nicht heraus. So schön kann Oper auch sein: einfache, aber stimmungsvolle Bühnenbilder von Alain Chambon, elegante historische Kostüme von Maria Chiara Donato und eine fantastisch differenzierte Beleuchtung von Laurent Castaingt – für mich das schönste Licht auf einer Bühne im ganzen Jahr 2022! Ein wahrlich zauberhafter Abend. 

© Charles Duprat / Opéra National de Paris / James Creswell (Marchese di Calavtra, mit Schwert), Russel Thomas (Alvaro, mit Pistole) und Anna Netrebko (Leonora)

„La forza del destino“ galt in meiner Jugend als das schlechteste Libretto im gängigen Opernrepertoire (zusammen mit dem recht ähnlichen „Trovatore“). Doch inzwischen wurden auch weniger bekannte Werke Verdis ausgegraben und ich kann versichern, dass „Alzira“ ein noch viel schlechteres Libretto hat (siehe meine Rezension vor wenigen Wochen in Lüttich). Altmeister Jean-Claude Auvray (mehr als 200 Inszenierungen) kann in seinem hochinteressanten Text zur Entstehung von „La forza del destino“ genau erklären warum.  Man kommt erst einmal nicht aus dem Staunen heraus, dass es noch hochkultivierte Regisseure gibt, die sich akribisch in den historischen Stoff einarbeiten – um sich dann auf der Bühne ganz in den Dienst des Werkes zu stellen (und nicht ihres Egos). Auvray gibt der Musik und den Darstellern allen Raum auf einer quasi leeren Bühne (nach dem „Prolog“), mit nur wenigen Elementen, die alles Nötige aussagen ohne uns dabei sein persönliches „Konzept“ aufdrängen zu wollen. Wer will, kann darüber nachdenken, warum erst ein riesiger Christus über dem Geschehen hängt und am Ende quasi gebrochen auf der Bühne liegt. Denn das war der ursprüngliche Schluss bei der durch Verdi dirigierten Uraufführung 1862 in Sankt Petersburg: dort verfluchte der seit fünf Jahren im Kloster lebende Don Alvaro Gott und die Religion, die ihn und Leonora nicht vor einer „Rache“ hatten schützen können für einen Mord und eine Missetat die sie beide nicht begangen hatten. Verdi hat an der Oper danach noch viel gewerkelt und bei der so gesagt „endgültigen Fassung“ 1869 an der Scala, Don Alvaros Fluch und Selbstmord verändert in ein versöhnliches Schlusstrio, denn er hoffte die Oper als ein Kirchenersatz im neuen säkularisierten Italien etablieren zu können. Eigentlich schade, dass die ursprüngliche Fassung aus 1862 anscheinend nicht mehr gespielt wird (ich habe nur eine alte Aufnahme bei der BBC finden können), denn das wäre bei den hochinteressanten Briefen Verdis zu diesem Werk doch die Mühe wert – so wie in den letzten Jahren mehrere interessante Urfassungen des ursprünglichen „Don Carlos“ wieder ausgegraben wurden. Also nur Lob für den Regisseur und sein Team.

© Charles Duprat / Opéra National de Paris / Anna Netrebko von der Welt zurück, begleitet durch den exzellenten Chor, angeführt durch Ferrucio Furlanetto als Padre Guardiano (rechts)

Musikalisch war es ein großer Abend und das liegt erst einmal an dem italienischen Dirigenten Jader Bignamini, der in Paris debütierte und von dem wir noch nie gehört hatten.

Doch dass er Verdi en détail kennt und liebt hatte jeder im Saal schon nach wenigen Minuten begriffen – obwohl der Abend mit dem Prolog begann (der Abschied im Palast des Marchese de Calatrava) und die Ouvertüre danach als „Sinfonia“ gespielt wurde – als Flucht/Fluch der Geliebten (was, glaube ich, Gustav Mahler als allererster in Wien durchgesetzt hat). Das Orchestre de l’Opéra National de Paris, das unter Simone Young in „Salome“ noch einen „eintönigen Einheitsbrei“ abgeliefert hatte, war schlicht und ergreifend nicht wieder zu erkennen. Wie viele Nuancen! Und was für fein ausgearbeitete Details wie das Klarinettensolo, die Trompeten aus dem Off, die subtile Harfenbegleitung – wirklich erstklassig. Und natürlich fantastisch für die Sänger, die auch in diesem riesigen Saal mezza-voce und piano singen konnten. Ein ebenso großes Lob für den absolut exzellent durch Ching-Lien Wu vorbereiteten Chor der Opéra de Paris. Die viel gelobte Chordirigentin saß auch noch bei der vierten Vorstellung im Saal und notierte ganz genau quasi bei jedem Choreinsatz. Das Resultat konnte man hören: alle Choreinsätze aus dem Off waren lupenrein, immer wieder mit einer anderen Farbe und als dann der ganze große Chor auf der Bühne stand, sang er immer noch fein und differenziert. Bravo!

Bei den Sängern ging die größte Aufmerksamkeit natürlich an Anna Netrebko, zumal sie bei der Premiere am 12. Dezember hatte absagen müssen (Anna Pirozzi sprang ein) und eine Woche im Krankenhaus mit einer schweren Entzündung gelegen hatte ohne überhaupt sprechen zu können. Was sie leistete, war für die Pariser Ohren spektakulär. Denn es ist erst ihr dritter Auftritt an der Pariser Oper seitdem sie hier 2008 die Giulietta in „I Capuletti e i Montecchi“ gesungen hat. (Es folgten 2009 Adina in „Elisir d’amore“ und 2017 Tatiana in „Eugen Onegin“.) Also wir hatten sie noch als unschuldiges Mädchen im Ohr und erlebten sie nun zum ersten Mal auf der Bühne als reife Frau. Sie meisterte die große Rolle der Leonora mit Bravour ohne zu forcieren und gleichzeitig mit vielen Farben und einer unglaublich feinen Phrasierung. Alles stimmte und war auch szenisch bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Das Publikum dankte ihr mit riesigem Beifall, der nach ihrer letzten Arie „Pace, pace“ minutenlang anhielt, so dass sie ihren Kopf noch einmal aus ihrer Einsiedlerklause stecken musste, um einen Beifalls-Orkan entgegenzunehmen, an dem sich auch der Dirigent und das Orchester beteiligten. Ein Riesen Erfolg, der absolut verdient ist. Denn es ist ein gängiges Phänomen, dass Soprane mit den Jahren ihre tieferen Lagen ausbauen und einen „Fachwechsel“ unternehmen, aber in diesem Ausmaß habe ich dies mit eigenen Ohren noch nie so gehört. Natürlich hat Anna Netrebko als Leonora nicht das Stimmvolumen von Leontyne Price und die Strahlkraft von Maria Callas, die diese Rolle für unsere Ohren geprägt haben, aber ihre Rollengestaltung bleibt eine große sängerische und künstlerische Leistung, vor der wir unseren Hut abnehmen.

© Charles Duprat / Opéra National de Paris / Ludovic Tezier (Don Carlo di Vargas), Russel Thomas (Alvaro), Ferrucio Furlanetto (Padre Guardiano) und Anna Netrebko (Leonora)

Leider konnte Russel Thomas ihr als Don Alvaro nicht das Wasser reichen. Die Rolle des Don Alvaro, die er auch schon in Berlin und anderswo gesungen hat, bereitet ihm keine Probleme und er gestaltet sie tadellos. Aber seine Stimme ist für den riesigen und akustisch problematischen Saal der Opéra Bastille einfach zu klein. Das merkte man gleich im Prolog, wo der Sänger schon forcierte. Und obwohl der Dirigent und auch die Kollegen alle erdenkliche Rücksicht nahmen (er stand in vielen Duos 2-4 Meter näher an der Rampe als sie), wirkte er manchmal beinahe komisch, wenn er bei den hohen Noten sich auf seine Zehen stellte, wie der Frosch in der Fabel von Lafontaine, der sich aufbläst um so groß zu sein wie ein Ochse. Wieder ein Buh für die neue Casting-Direktorin, die ihn gewählt zu haben scheint wegen seiner Hautfarbe, weil in den social media Druck ausgeübt wird, dass die Oper mehr farbige Sänger engagiert (Don Alvaro ist ja ein Inca-Prinz). Ludovic Tezier sang vom ersten Ton an fulminant als Don Carlo di Vargas (der Bruder von Leonora) und wurde auch mit einem langen Szenenapplaus belohnt nach seiner eindrucksvollen Arie „Urna fatale del mio destinio“. James Creswell sang einen sonoren Marchese di Calavtra und der ebenso exzellente Ferrucio Furlanetto musste sich als Padre Guardiano die Gunst des Publikums teilen mit seinem „Assistenten“ Fra Melitone, der fantastisch gespielt und gesungen wurde durch den jungen Sänger Nicola Alaimo, der sicherlich bald wieder an die Pariser Oper eingeladen wird. Elena Maximova kam als kecke Preziosilla leider auch nicht mit dem großen Saal zurecht (ihre Register klafften auseinander und die Höhe wurde schrill), doch das galt nicht für Julie Pasturaud als Curra, Carlo Bosi als spielfreudiger Trabuco und die exzellenten Choristen Florent Mbia und Hyun Sik Zee als Comprimari. Anna Pirozzi – der ein hochbejubeltes Debüt an der Pariser Oper gelang – wird (wie geplant) die weiteren Aufführungen singen, bevor sie hier im Januar die andere Verdi-Leonora verkörpert: im „Trovatore“.

Waldemar Kamer, 23. Dezember 2022

Ergänzend hierzu auch der Kontrapunkt: Pace, pace.


Giuseppe Verdi: „La forza del destino“

Opéra National de Paris

Regie: Jean-Claude Auvray
Chorleitung: Ching-Lien Wu
Chor der Opéra de Paris
Dirigat: Jader Bignamini
Orchestre de l’Opéra National de Paris