Die beiden unter dem Titel OISEAUX REBELLES gezeigten Ballette tragen unterschiedliche choreografische Handschriften – und zeigen auch zwei sehr unterschiedliche Frauengestalten, zwei völlig konträre „Rebellinnen“. Carmen, nach deren Auftrittsarie (L’amour est un oiseau rebelle) aus Bizets gleichnamiger Oper der Abend übertitelt ist, ist die allgemein bekannte Frauenfigur, die femme fatale und Kämpferin für das sexuelle Selbstbestimmungsrecht. Sie macht keine Entwicklung durch, ist von Beginn weg in ihrem Drang nach freier Liebe ohne Bindungen und Verpflichtungen sich selbst. Mats Ek hat dieser freiheitsliebenden Frau in seiner atemberaubenden Choreografie ein veritables Denkmal gesetzt, einen unverwüstlichen Stern an den Balletthimmel gezeichnet.

Ganz anders zeichnet die Choreografin Dani Rowe die Figur „Human“ in VESTIGE, ihrer Neukreation für das Ballett Zürich. Human ist hier ein „Vogel mit gestutzten Flügeln“, eine Frau, die praktisch hilflos den traumatischen Bildern und Erinnerungen der Vergangenheit ausgesetzt ist, welche auf sie zur Musik von Mussorgskis BILDER EINER AUSSTELLUNG (in der Orchestrierung Maurice Ravels) einwirken. Diese Erinnerungsfetzen und Überbleibsel (Vestige bedeutet Überreste, Spuren, Fragmente) sind konfliktbeladen, lösen bei Human psychosomatisches Zittern aus, sie tanzt mal in einem qualvollen Pas de deux mit der männlichen Figur „Him“, dann mit verschiedenen verschleierten Figuren aus der Vergangenheit, den Toten, die in ihrem Leben, in ihrer Jugend eine wichtige Rolle gespielt hatten, z. B. ihre Eltern. Vor allem der Tod der Mutter scheint Human sehr beschäftigt zu haben. Doch dieses Hereinschweben, diese Konfrontation mit den Remains of the Past scheint bei Human eine kathartische Wirkung gehabt zu haben. Zum letzten Bild von Mussorgskis BILDER EINER AUSSTELLLUNG, der Apotheose des großen Tors von Kiew, entschwebt das Mobile aus leeren Bilderrahmen nach oben (Bühnenbild: Jörg Zielinski, Kostüme: Louise Flanagan), die Geister der Vergangenheit ziehen sich zurück, die schwarze Rückwand öffnet sich einen Spaltbreit, lässt einen orangen Lichtstreifen (Lichtdesign: Martin Gebhardt) aufschimmern und Human tanzt sich zunehmend frei; im übertragenen Sinne hat der Vogel seine Flügel wieder gefunden, entschwebt in die neu gewonnene Freiheit. Dani Rowe nimmt zu Recht Mussorgskis programmatische Musik nicht als Programm auf, illustriert also nicht die Titel der einzelnen Bilder, sondern lässt sich von Stimmungen der einzelnen Stücke zu ihren in Tanz umgesetzten Empfindungen inspirieren. Max Richter tanzte diese gebrochene, komplexe und dann zur Freiheit findende Figur Human mit grossartiger Präsenz, Karen Azatyan spielte als Him seine bestechende Virilität gekonnt aus, und die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts Zürich stellten die schemen- und schattenhaften Geister der Vergangenheit in diversen Formationen von Einzel- bis zu Gruppentänzen eindringlich dar. Dani Rowes Tanzsprache reicht vom klassisch geformten Spitzentanz bis zu schmerzhaft geknicktem Ausdruckstanz. Mancherorts wäre eine gewisse dramaturgische Schärfung dieser „Schatten der Vergangenheit“ hilfreich gewesen, um sich besser in die Psyche der Human einfühlen zu können. Aber dazu boten die relativ kurzen musikalischen Bilderschilderungen Mussorgskis wohl zu wenig Raum.
Dies war nach der Pause bei Mats Eks genialer Choreografie CARMEN völlig anders. Rodion Schtschedrins CARMEN-SUITE ist kongeniale Ballettmusik; er schrieb sie für seine Gemahlin Maya Plissezkaja. In der Umsetzung durch Mats Ek erlebt man einen knapp einstündigen, atemberaubenden Albtraum. Mats Ek erzählt die Geschichte als qualvolles Erinnern Don Josés in seiner Haft quasi aus einer Rückblende auf die Ereignisse heraus (wie Prosper Mérimée in seiner literarischen Vorlage zu Bizets Oper): Die Erfahrungen, die unheilvolle Liebe zu Carmen und die Unvereinbarkeit der beiden Charaktere werden in intensiv-glühenden Szenen voller Virtuosität erzählt. Gebrochen sitzt Don José auf einer riesigen Gefangenenkugel, mit welcher man in früheren Zeiten Häftlinge gefesselt hat. Schtschedrins Musik hat etwas Rudimentäres an sich. Wie Fetzen der Erinnerung tauchen Motive aus Bizets Partitur auf, kommen näher, entschwinden, brechen abrupt ab, wechseln oder kippen unverhofft. Das passt perfekt zur dramaturgisch ausgefeilten Erzählweise von Mats Ek, man wird regelrecht hineingezogen in diesen Strom der Erinnerungen. Mats Eks Tanzsprache sprüht vor Rasanz, enthält weite Sprünge, abgewinkelte Fussgelenke im 90 Grad Winkel, hochgezogene Schultern, eckige Verrenkungen gehören genauso dazu wie Gemurmel, Schreie und die Eroberung des Raums oberhalb der Tänzer*innen durch das Werfen von Stoffbändern oder gigantischen, brennenden Streichhölzern (zirkusreif!). Die Erinnerungen Don Josés sind zum Teil so schrill, schmerzhaft und verzerrt, wie Erinnerungen eben sind: Die Kostüme metallisch glitzernd (Bühnenbild – ein großer und zwei kleinere Fächer und Kostüme: Marie-Louise Ekman, Lichtgestaltung: Ellen Ruga). Nancy Osbaldeston tanzte eine glaubhafte Carmen mit der notwendigen Laszivität und starkem, forderndem Selbstbewusstsein. Esteban Berlanga war ihr ein ebenbürtig ausdrucksstarker Partner als Don José, Brandon Lawrence strotzte nur so vor Sex-Appeal als Escamillo in seinem schwarz-goldenen Outfit. Doch die Krone des Abends gehörte eindeutig Shelby Williams in der Rolle der Figur M… . Diese von Mats Ek konzipierte Figur kann vieles darstellen – für mich ist sie eindeutig LA MORT und vielleicht noch LA MÈRE. Bereits in der ersten Szene umfasst sie Don José, später legt sie ihm ihren lila Schal um die Schultern, zieht ihn in ihren Bannkreis, in den Tod. Shelby Williams verlieh der Figur eine geradezu furchterregende Intensität. Ihr Spiel mit den Händen, exakt zur Musik Schtschedrins choreografiert, war von ungeheurer Präzision. Als von José ermordeter Hauptmann durfte man nochmals Karen Azatyan erleben. Pablo Octávio tanzte einen quirligen Dancaïre einem silbern glänzenden Kostüm.

Mats Ek hatte seine CARMEN für seine Ehefrau Ana Laguna geschaffen, und es ist ein grosses Glück und eine ganz besondere Ehre für das Ballett Zürich, dass der 80jährige Choreograf (er vollführte beim Schlussapplaus gar noch eine Pirouette) und Ana Laguna (zusammen mit Rafi Sady) persönlich die Einstudierung dieses Jahrhundertballetts übernommen hatten. Als Mats Ek sich dem Premierenpublikum zeigte, gab es beim Schlussapplaus kein Halten mehr, man musste sich einfach erheben, denn das war eine starke, beeindruckende Leistung des Balletts Zürich in einer fantastischen Choreografie.
Viel zur atmosphärischen Dichte des Abends steuerte das Orchester der Oper Zürich unter der Leitung von Matthew Rowe (er ist weder verwandt noch verschwägert mit der Choreografin Dani Rowe) bei. Gerade bei Schtschedrins CARMEN-SUITE erreichte das Orchester der Oper Zürich eine teils beklemmende, dann wieder verhalten freudige Plastizität und mystische Kraft.
Eine starke, faszinierende Ballettpremiere!
Kaspar Sannemann, 17. Oktober 2025
Oiseaux Rebelles
Ballettabend
Carmen (1992)
Mats Eks
Vestige
Musik: Modest Mussorgskis
Choreografie: Dani Rowe
Oper Zürich
12. Oktober 2025
Dirigat: Matthew Rowe
Orchester der Oper Zürich