Stuttgart: „Elektra“, Richard Strauss

© Martin Sigmund

An der Stuttgarter Staatsoper ist mit großem Erfolg Richard Strauss‘ Elektra wiederaufgenommen worden. Die bereits aus dem Jahr 2006 stammende Inszenierung von Peter Konwitschny, die ursprünglich eine Ko-Produktion mit der Kopenhagener Oper darstellte und auch schon in Leipzig gezeigt wurde, ist nach wie vor sehr sehenswert. Hier haben wir es mit einem wahren Edelstein in der Rezeptionsgeschichte des Werkes zu tun. Es ist eine ungemein kluge, spannende und eindringliche Kult-Inszenierung, die obendrein von einer stringenten, nie erlahmenden Personenregie geprägt wird. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme besorgte Rebecca Bienek.

Konwitschny nähert sich der Elektra stark von der psychoanalytischen Seite her. Seine hervorragende Regiearbeit trägt stark den Erkenntnissen von Sigmund Freud und C. G. Jung Rechnung. Das Seelenleben der Protagonistin interessiert ihn in besonderem Maße, ihm schenkt er besondere Aufmerksamkeit. Elektra leidet in seiner Deutung unter einer ausgemachten Psychose, von der sie nicht geheilt werden kann. Mit großem Können dringt Konwitschny bis in die tiefsten Gefilde ihrer Seele vor, deren Abgründe er einfühlsam durch die Brille des Psychoanalytikers betrachtet. Seinem reflektierenden Blick auf die dramatische Handlung korrespondiert auch das von Hans-Joachim Schlieker – er kreierte zudem die modernen Kostüme – entworfene Bühnenbild, dessen Seitenwände von riesigen Spiegeltüren dominiert werden. Hier haben wir es gleichsam mit Spiegeln der Seele zu tun, die die Verhaltensweisen- und Muster nicht nur der Titelfigur, sondern sämtlicher beteiligten Personen, die stets aufs Neue auf sich selbst zurückgeworfen werden, erklären.

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In dem Bestreben, zu verdeutlichen, wie es zu dem Trauma Elektras überhaupt kam, stellt Konwitschny der eigentlichen Oper ein kurzes, von ihm dazu erfundenes Vorspiel mit gesprochenen Dialogen voraus. Hier vergnügt sich der gerade frisch aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrte Agamemnon mit seinen drei kleinen Kindern in einer steinernen Badewanne, bevor er schließlich von seiner Frau Klytaimnestra und ihrem dazukommenden Liebhaber Aegisth hinterrücks gemeuchelt wird. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Mädchen Elektra, das den grausamen Mord an seinem Vater beobachten muss, stark traumatisiert aus der Szene hervorgeht und die Bluttat im Folgenden nicht mehr verarbeiten kann. Der Rachewahn wird zu einem unlösbaren Bestandteil ihres Wesens. Auch als Orest aus der Fremde nach Mykene zurückkehrt, bleibt der ungestillte Durst nach Rache unnachgiebig an ihr haften und wird sogar noch intensiviert. Das entspricht ganz der Erkenntnis Freuds, die besagt, dass in der Vergangenheit erlittene seelische Traumen erhalten bleiben und nur sehr schwer geheilt werden können. Bezeichnend ist das Bild, in dem der Pfleger Orest das Mord Beil, das dieser kurz zuvor von der Atriden-Prinzessin zum Vollzug der Rache erhalten hat, nach einem kurzen Kampf wieder entwindet und an Elektra zurückgibt. Hier wird deutlich, dass diese den Vergeltungsgedanken nicht einfach weiterreichen und auf einen andere übertragen kann, sondern dass er für immer einen Bestandteil ihres Wesens darstellen wird.

 Konsequenterweise ist das Beil auch die ganze Aufführung über anwesend, in gleichem Maße wie Agamemnon. Ständig präsent wird dieser zum stummen Zeugen des Geschehens, an dem er sich auch von Zeit zu Zeit beteiligen darf. Er entsteigt der Wanne, geht umher, raucht und flüstert Klytämnestra zu guter Letzt noch die Nachricht von Orests Tod ins Ohr. Auch derartige Regieeinfälle haben in der gestörten Psyche von Elektra ihren Ursprung. Ihre pathologische Vaterbezogenheit, aus der Jung den Elektra-Komplex entwickelt hat, gebiert diese Bilder, die nicht real, sondern psychisch aufzufassen sind. Das ständig visualisierte Bild des toten Vaters ist Ausfluss ihres Traumas, ein stets vorhandenes Mahnmal der Vergeltung, das nicht wegzudenken ist und an dem sie schließlich auch Orest teilhaben lässt.

© Martin Sigmund

Den zweiten Hauptaspekt von Konwitschnys Ansatz bildet eine ausgeprägte Orest-Kritik, durch die seine Regiearbeit an Spannung noch zunimmt und dem Ganzen eine besondere Würze verleiht. Der Regisseur misstraut stark dem Friede-Freude-Eierkuchen-Prinzip nach Beseitigung des alten Terrorregimes. Von einem lieto fine will er nichts wissen. Stattdessen lässt er das Ganze in ein ausgesprochenes Gemetzel münden, in dem bis auf Orest und seinen Pfleger sämtliche beteiligte Personen niedergemäht werden. Elektra stirbt nicht bei einem ausgelassenen Tanz, sondern durch einen Schuss in den Bauch. Chrysothemis fällt ebenfalls durch eine Kugel. Offenbar hatte Orest es ihr verübelt, dass sie sich mit den alten Herrschern arrangiert hatte. Auch die als Mitglieder einer Putzkolonne interpretierten Mägde, deren Aufseherin gerne Zeitung liest, können ihrem Schicksal nicht entrinnen. Im Maschinengewehrfeuer sinken sie leblos zu Boden, während im Hintergrund ein buntes Feuerwerk in die Luft geht. Die Freude ist indes nur von kurzer Dauer. Die Vergeltungssucht von Orest bleibt ungestillt. Kriegsähnliche Zustände breiten sich aus. Diese waren bereits in Gestalt des ständig präsenten Spielzeugkriegsschiffes und einer Wasserpistole des Kindes Orest aus der bereits erwähnten Vorgeschichte die ganze Zeit über latent vorhanden und brechen nun mit vehementer Gewalt aus. Eine Schreckensherrschaft gebiert aus sich heraus die nächste. Ein neuer Diktator wird inthronisiert. Der echte Machthaber ist indes der Pfleger, den Konwitschny ungemein aufwertet.  Er hielt bereits vorher alle Fäden in seiner Hand. In seinen Händen ist Orest auch weiterhin lediglich eine willfährige Marionette. Sogar beim finalen Muttermord führt der Pfleger seinem Zögling die Hand mit der Pistole und macht ihn auf diese Weise zu einem willenlosen Werkzeug seiner eigenen Pläne. Auf Aegisth feuern beide ihre Pistolen ab. Derart nimmt Konwitschny Orest jegliche Eigeninitiative und degradiert ihn zu einem schwachen und manipulierbaren Hampelmann, der zu jeder Form von Herrschaftsausübung strenggenommen unfähig ist. Auch in Zukunft wird der Agamemnon-Sohn stets von Schattenmännern umringt sein, die seine Handlungen gemäß den Befehlen des Pflegers lenken.

Die letzte Hauptkomponente von Konwitschnys Konzeption bildet eine krasse Bezugnahme zu terroristischen Umtrieben unserer Zeit, wie sie nach den Anschlägen des 11.September aufgekommen sind. Das am Ende seine Schrecken verbreitende Blutbad lässt der Regisseur durch einen zu Beginn einsetzenden Countdown – eine rückwärts laufende Digitaluhr – bereits ganz am Anfang der Aufführung ankündigen. Damit stellt er eine beklemmende Nähe zu aktuellen Attentaten her. Zur Zeit der Premiere dieser Produktion waren es u. a. die Gräueltaten der arabischen Terrorzelle al-Qaida, die er nachhaltig anprangerte. Heute mögen es andere Adressanten sein, die Grundaussage aber bleibt. Es ist schon ein ausgesprochen pessimistischer und gewalttätiger Schluss bar jeder Hoffnung, mit der Konwitschny hier aufwartet. Damit hat er allerdings dem kulturpolitischen Auftrag aller Theater und Opernhäuser, einen Spiegel der Jetztzeit zu bilden, fantastisch entsprochen. Seine hochkarätige Interpretation von Strauss‘ Oper stellt einen der eindrucksvollsten Beiträge zum modernen Musiktheater dar, der ein echtes Juwel im Spielplan der Stuttgarter Staatsoper darstellt.

© Martin Sigmund

Gut gefiel GMD Cornelius Meister am Pult. Zusammen mit dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart machte er aus dem Werk keine Lärmorgie, sondern schraubte den Orchesterapparat angenehm zurück. Die zahlreichen Fortissimo-Stellen gerieten nie überlaut, sondern entsprachen stets den Möglichkeiten der Sänger. Insgesamt gelang Meister eine packende Auslotung von Strauss‘ genialer Partitur, wobei er auch die Zwischentöne betonte und die herrlichen lyrischen Stellen, wie beispielsweise der Orest-Szene, trefflich herausstellte.

Nun zu den sängerischen Leistungen. Iréne Theorin verfügte zwar durchaus auch über einige angenehme leise Töne. Das sind indes nicht die Parameter, an denen eine Elektra gemessen wird. Wesentlich für diese Partie sind die dramatischen, hochgelagerten Passagen. Und hier nahm der Sopran von Frau Theorin einen scharfen, vibrato reichen Klang an, der nicht gerade ansprechend war. Weit übertroffen wurde sie von Simone Schneider, die als Chrysothemis mit vollem, rundem, substanzreichem und vorbildlich italienisch geschultem dramatischem Sopran eine absolute Glanzleistung erbrachte. Ebenfalls gut gefiel Violeta Urmana als Klytaimnestra. Darstellerisch war sie nicht so sehr eine dem Wahnsinn nahe Königin, als vielmehr eine übermüdete und indisponierte elegante Dame, die sich im Grunde ihres Herzens nach der Nähe zu ihrer Tochter Elektra sehnt und es aus diesem Grunde auch gerne duldet, dass diese sich in einem intimen Mutter-Tochter-Moment zärtlich an ihr Knie schmiegt. Auch gesanglich vermochte sie mit einem gutsitzenden und tiefgründigen Mezzosopran voll zu überzeugen.

© Martin Sigmund

Mit einem herrlich italienisch fokussierten, sonoren Bariton gab Pawel Konik den Orest, dem er schauspielerisch in gleicher Weise eine eindringliche Note verlieh. Mit prächtig im Körper verankertem Tenor sang Matthias Klink einen gefälligen Aegisth. Nichts auszusetzen gab es an dem profund singenden Pfleger des Orest von Sebastian Bollacher. Nur Gutes vernahm man aus dem aus Stine Marie Fischer, Ida Ränzlöv, Alexandra Ionis, Claire Tunney und Esther Dierkes bestehenden Ensemble der Mägde. Solide schnitten Catriona Smith (Aufseherin), Anna Martyuschenko (Vertraute) und Lena Spohn (Schleppträgerin) ab. Mit kraftvollem Tenor wertete Alexander Efanov die kleine Rolle des jungen Dieners auf. Den alten Diener gab zufriedenstellend Daniel Kaleta. Als Agamemnon gefiel der Schauspieler Peer Oscar Musinowski. Eine ordentliche Leistung erbrachte, der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.

Fazit: Eine sehr innovative und hoch spannende Inszenierung, die die Fahrt nach Stuttgart wieder einmal voll gelohnt hat.

Ludwig Steinbach 28. März 2024


Elektra
Richard Strauss

Staatsoper Stuttgart

Premiere. 27. November 2005
Besuchte Aufführung: 27. März 2024

Inszenierung: Peter Konwitschny
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart