An der Stuttgarter Staatsoper hatte am 29. Oktober 2023 eine Neuproduktion von Richard Strauss‘ Oper Die Frau ohne Schatten ihre umjubelte Premiere. Mehrere Jahre hatte man auf diese bemerkenswerte Aufführung warten müssen. Ursprünglich für den Herbst 2020 geplant, musste sie damals aufgrund der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Nun, nach drei Jahren, hat die Staatsoper Stuttgart sie endlich präsentiert und damit einen Volltreffer gelandet. Bei diesem im Jahre 1919 an der Wiener Staatsoper erfolgreich aus der Taufe gehobenem Werk von Strauss und von Hofmannsthal haben wir es mit einer Rarität zu tun. Lange hat man die Frau ohne Schatten nicht mehr auf den Spielplänen gesehen. Und diese Spielzeit nehmen sich gleich vier Opernhäuser ihrer an, unter ihnen Stuttgart. Aber das hat die Oper, die Komponist und Librettist als ihre bedeutendste Arbeit ansahen, auch verdient. Die musikalische Ausbeute ist enorm.
Und bei GMD Cornelius Meister und dem brillant aufspielenden Staatsorchester Stuttgart war Strauss‘ leider etwas gekürzte Partitur in vortrefflichen Händen. Große Tiefe und Fulminanz zeichneten Meisters hervorragendes Dirigat aus. Was da aus dem Graben drang, war in höchstem Maße ansprechend. Genüsslich badeten Dirigent und Orchester in den gewaltigen Klangfluten, die sie mit großer Dramatik glutvoll ausloteten. Daneben wartete Meister aber auch mit herrlichen leisen und lyrischen Passagen auf. Insgesamt gelang ihm ein sehr abwechslungsreiches, differenziertes und nuanciertes Klangbild, das sich obendrein durch spezifische Coleurs auszeichnete. Die Spannung wurde vom Dirigenten stets aufrechterhalten und solistische Stellen feinfühlig in den großen musikalischen Gesamtzusammenhang eingeordnet. Ein Extralob gebührt den Violin- und Violoncello-Soli, die ausgesprochen emotional und tiefgründig erklangen. Bravo!
Auch die Inszenierung von David Hermann in dem Bühnenbild von Jo Schramm und den Kostümen von Claudia Irro und Bettina Werner vermochte stark für sich einzunehmen. Konventionellen Sehgewohnheiten hat das Regieteam eine deutliche Absage erteilt und das Ganze gekonnt in einem modernen Rahmen angesiedelt. Hermanns Ausgangspunkt ist eine zerstörte Welt, in der die Menschen – Barak, seine Frau und seine Brüder – nicht mehr das Zentrum bilden, sondern nur noch Überlebende einer großen Katastrophe sind. Gekonnt zeigt die Regie zwei entgegengesetzte Welten auf. In Gefahr und Schmutz leben die Menschen. Ihre Welt ist verseucht. Sie haben sich in einen kuppelartigen Betonbunker als Schutzraum zurückgezogen, in dem sie zusammen mit einem riesigen wurmartigen Wesen leben. Irgendwann wird dieses von ihnen getötet. Ein zweiter Sündenfall findet statt, die Zerstörung nimmt ihren Fortgang. Steril und rein sieht es dagegen in der Kaiserwelt aus. Diese Räume machen einen angenehmen Eindruck. Hier darf sogar noch ein Garten blühen, in den sich die Kaiserin und die Amme zurückziehen, um zu beraten. Die Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen sind fließend. So spielen große Teile des zweiten und dritten Aufzuges, die sich der Menschen annehmen, in der Kaiserwelt. Die humane Spezies wird – wohl von der Kaiserin und der Amme – in eine andere Welt gebracht, in der es sich angenehmer leben lässt. Der Schatten wird zum Handelsobjekt. Ursprünglich Schwangerschaft und Mutterschaft symbolisierend, kommt ihm noch eine weitere Funktion zu, die Hermann und sein Team besonders interessiert. Ihnen geht es in erster Linie darum, diejenigen Aspekte aufzuzeigen, die das Menschsein ausmachen. Was bedeutet Letzteres? Nun, die Antwort ist nicht allzu schwer. Es geht hier um den Kern des eigenen Handelns, um die Übernahme von Verantwortung für andere. Das betrifft in erster Linie die Kaiserin, bei der zudem noch ein gehöriger Schuss Psychoanalyse mit reinspielt. Das hat der Regisseur klug gemacht.
Auch hinsichtlich der Geisterwelt Keikobads wartet Hermann mit einigen gelungenen Ideen auf. Für ihn ist der Geisterfürst eine Art hyperintelligente Natur, etwas, das größer ist als der Mensch, eine planetarische Energie, die immer wieder in die Vorgänge eingreift und die Menschen das ganze Stück über beobachtet (vgl. Programmbuch). Die Menschen nimmt er einmal mit Hilfe eines über der Bühne schwebenden, farbigen und glitzernden Facettenauges unter die Lupe. Big Brother is watching you. Zum anderen wandelt die ganze Aufführung über immer wieder der Geisterbote über die Bühne und wird so zum Zeugen der Handlungen der Protagonisten. Immer wieder erscheint er an Stellen, an denen Strauss und von Hofmannsthal für ihn eigentlich gar keinen Auftritt vorgesehen haben. Mit Tschechow‘ schen Elementen kann der Regisseur wahrlich umgehen. Gleichzeitig wird damit die Nebenrolle des Boten ungemein aufgewertet. Er fungiert gleichsam als Spiritus rector, der in dem Hüter der Schwelle des Tempels ein jüngeres Alter Ego besitzt. Eine ähnliche Rolle als Strippenzieherin kommt der diabolischen Amme zu, die indes von dem Boten zu guter Letzt entmachtet und verbannt wird und damit ihre Funktion verliert. Mit der Menschwerdung der Kaiserin und der Erlangung eines eigenen Schattens geht am Ende ein Wunder einher: Neben der Färbersfrau werden auch die Männer schwanger. Barak und der Kaiser tragen auf einmal dicke Bäuche vor sich her. Mit Hilfe des Geisterboten als Geburtshelfer bringt Barak einen neuen, kleinen Wurm zur Welt, der von den Menschen hoffentlich besser behandelt wird als sein großer Vorgänger.
Von den Sängern ist an erster Stelle die wunderbare Simone Schneider zu nennen, die sich als Idealbesetzung für die Kaiserin erwies. Mit üppigem, sonorem und bestens italienisch fundiertem jugendlich-dramatischem Sopran zog sie alle Facetten dieser anspruchsvollen Partie, die sie sehr emotional und tiefgründig anlegte. Die imposanten, bis zum dreigestrichenen des reichenden Höhenflüge bewältigte sie ebenfalls grandios. Zu Beginn produzierte die Amme von Evelyn Herlitzius einmal einen nicht optimal gelungenen Spitzenton. Dieses Problem bekam sie aber schnell in den Griff und wartete im Folgenden mit einer packenden Leistung auf. Ihre etwas harte Stimme passte vortrefflich zu der Partie, deren dämonischen Charakter sie schon rein vokal ansprechend vermittelte. Und darstellerisch erbrachte sie eine absolute Glanzleistung! Martin Gantners Barak zeichnete sich durch einen hell timbrierten, gut sitzenden und ebenmäßig dahinfliessenden Bariton aus. Eine weitere Topleistung erbrachte Michael Nagl, der mit herrlich sonorem, vorbildlich italienisch fokussiertem und tiefgründigem Bass einen vorzüglichen Geisterboten sang. Stark maskig klang der über keinerlei solide Körperstütze seines hellen Tenors verfügende Benjamin Bruns in der Rolle des Kaisers. Als indisponiert entschuldigen ließ sich Iréne Theorin, die Sängerin der Färbersfrau. Bei ihren ständigen scharfen Höhen handelt es sich indes um ein allgemeines Problem der Sängerin, die auch schauspielerisch etwas ungelenk wirkte. Einen soliden Eindruck hinterließ Josefin Feiler, die mit ansprechendem Sopran die Stimme des Falken und den Hüter der Schwelle des Tempels gab. Eine gefällige Erscheinung eines Jünglings war Kai Kluge. Von des Färbers Brüdern gefielen die voll und rund singenden Pawel Konik (Der Einäugige) und Andrew Bogard (Der Einarmige) besser als der flach und überhaupt nicht im Körper intonierende Torsten Hofmann (Der Bucklige). Die Herren Nagl, Konik, Bogard und Hofmann waren auch als die Stimmen der Wächter der Stadt zu hören. Als Stimme von oben war die bei ihrem ersten Einsatz kaum hörbare Annette Schönmüller besetzt. Der von Manuel Pujol und Bernhard Moncado einstudierte Staatsopernchor Stuttgart und Kinderchor der Staatsoper Stuttgart machten ihre Sache ordentlich.
Ludwig Steinbach, 2. November 2023
Die Frau ohne Schatten
Richard Strauss
Staatsoper Stuttgart
Premiere: 29. Oktober 2023
Besuchte Aufführung: 1. November 2023
Inszenierung: David Hermann
Musikalische Leitung: Cornelius Meister
Staatsorchester Stuttgart