Stuttgart: „Carmen“, Georges Bizet

Zu Beginn der neuen Spielzeit 2023/24 stand wieder einmal Georges Bizets unverwüstlicher Klassiker Carmen auf dem Spielplan der schon oft bewährten Staatsoper Stuttgart. Es ist immer wieder erbaulich, diese hervorragende moderne Inszenierung, die seit ihrer Premiere im Jahre 2006 nichts an Stringenz verloren hat, zu sehen. Da ist Regisseur Sebastian Nübling in Zusammenarbeit mit seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Muriel Gerstner ein großer Wurf gelungen, der sich tief in das Gedächtnis einprägte.

(c) Martin Sigmund

Ausgangspunkt von Nüblings überzeugender Konzeption ist zuerst einmal die Eliminierung jeglicher Art von herkömmlicher spanischer Folklore. Das ist ein trefflicher Ansatzpunkt. Konventionellen Sehgewohnheiten wird hier eine rigorose Absage erteilt. Das wird schon am Anfang deutlich: Bereits während der durchinszenierten Ouvertüre erblickt man Don José in seiner ausgesprochen marode wirkenden Behausung. Im Unterhemd sitzt er vor einem Fernseher, über dem immer wieder ein allwissendes Auge erscheint. Big Brother is watching you. In seinem Nacken hat ein von Nübling dazu erfundenes, clownmäßig wirkendes grünes Männchen Platz genommen. Vor ihm auf dem Boden liegt die tote Carmen in einem eleganten grauen Glitzerkleid. Diese grüne Gestalt, die praktisch die ganze Aufführung über präsent ist, trägt den Namen Surplus. Dieser Name ist der Psychologie entlehnt. Beziehen tut er sich auf die Surplus-Realität, die nach Bekunden des Stuttgarter Dramatrugen Miron Hakenbeck eine subjektive und imaginierte Dimension der Realität beschreibt. Man kann das grüne Männchen als die böse Seite von Don José begreifen. Für seinen Träger, mit dessen Psyche es eine untrennbare Verbindung eingeht, ist es immer unsichtbar, nichtsdestotrotz aber zu jedem Zeitpunkt spürbar. Stets aufs Neue animiert es ihn zu den unterschiedlichsten Handlungen, wobei es auch mal seine Stelle einnimmt. Unter der Ägide des Surplus wendet sich Tragisches oftmals ins Komische. Auch zur Tötung Carmens treibt das grüne Männchen Don José an. Dieser versucht letzten Endes, sich von Surplus zu befreien, was ihm indes nicht gelingt. Surplus, der der ganzen Produktion ein ganz persönliches Gepräge verleiht, wird ewig mit ihm verbunden sein.

(c) Martin Sigmund

Abgesehen davon konzentriert sich Nüblings intensive Regiearbeit voll und ganz auf die vier Protagonisten Carmen, Don José, Micaela und Escamillo. Diese Personen sind ganz auf Don José zu beziehen. Im Chor und Kinderchor sieht man am laufenden Band Doppelgänger der vier Hauptpersonen agieren. Allesamt stellen sie Gegenbilder zu dem stark innerlich gespaltenen Don José dar. Das gilt in gleicher Weise für die recht dominant wirkende Soldatin  Micaela wie für den einen Frack tragenden Conférencier Escamillo. Geschickt spielt der Regisseur mit verschiedenen Ebenen der Realität. Die Handlung verortet er in einer rätselhaften, geradezu unheimlich anmutenden Traumwelt. Dabei verwendet er gerne Rückblenden.

(c) Martin Sigmund

Stets aufs Neue wird Carmen von Don José um die Ecke gebracht. Nübling überlässt es oft dem Publikum, sich eine eigene Ansicht über das Gesehene zu bilden. Der Charakter dieser Vorgänge ist nicht äußerlich zu begreifen, sondern nur innerer Natur. Hier spielt eine gehörige Portion Sigmund Freud mit rein. Entsprechend dem grünen Männchen werden die Schmuggler als Clowns vorgeführt. Ihr Anliegen besteht darin, Don Josés Dasein zu hinterfragen und ihm einen anderen Lebensplan zu präsentieren. Nach Angaben des Dramaturgen Hakenbeck stehen diese Clowns für eine Grenzüberschreitung ins Unbewusste. So ist auch die Passage du désir – d. h. Korridor des Begehrens – zu verstehen, die sich am Ende des zweiten Aktes zum Hintergrund hin öffnet und Don José den Zugang zu einem bis zuletzt unbekannt bleibenden Ort weisen will. Kann sein, dass sie in die Freiheit führt. Man weiß es nicht, aber die Möglichkeit besteht.

Zentrale Relevanz kommt in Nüblings Produktion dem Begriff Freiheit zu. In Carmen und Don José kollidieren unterschiedliche Arten von Freiheit. Diese lassen sich nach einem erbittert geführten Kampf um die Dominanz in dieser Beziehung aber nicht unter einen Hut bringen. Dieser Fakt führt schließlich zu der finalen Katastrophe. Carmen betrachtet ihre unbedingte Freiheit auch in einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung als den für sie wesentlichen Punkt. Für Don José dagegen gehen das Begehren einerseits und ein totaler Besitzanspruch andererseits eine untrennbare Verbindung ein, für deren Realisierung er vehement eintritt. Und diesem tritt die ungebunden sein begehrende Carmen mit all ihrer Kraft entgegen. Gleichzeitig provoziert sie auf diese Weise seine gewalttätigen Phantasien. Resigniert erkennt Don José schließlich, dass Carmen für ihn verloren ist. Er vermag es nicht, sie voll und ganz zu besitzen. Sie stellte die ganze Zeit über lediglich eine Projektionsfläche für seine obsessiven Triebe dar. Seine verletze Männlichkeit ist letzten Endes der Auslöser für die Ermordung Carmens. Wie eine Seifenblase zerplatzt zu guter Letzt sein persönlich gebasteltes Selbstbild. Dabei spielt auch seine offen an den Tag gelegte Eifersucht auf Escamillo eine nicht unerhebliche Rolle. Der Schluss beschwört die Utopie eines geruhsamen Zusammenlebens Don Josés mit Micaela herauf. Aber, wie gesagt, nur hier handelt es sich nur um eine Utopie. Sein innerer Dämon drängt Don José aufs Neue gnadenlos zu Carmen hin, die am Ende ein letztes Mal von ihm ermordet wird. Das war alles sehr überzeugend und mit Hilfe einer stringenten Personenregie spannend auf die Bühne gebracht.

(c) Martin Sigmund

An diesem Abend gab Ariane Matiakh ihr Debüt am Pult des Staatsorchesters Stuttgart. Ihr erstes Dirigat an der Stuttgarter Staatsoper kann man durchaus als gelungen ansehen. Bereits die Ouvertüre gelang ihr feurig und gleichzeitig auch recht spritzig. Im Folgenden produzierte sie zusammen mit dem bestens disponierten Orchester einen einfühlsamen, tiefgründigen Klangteppich, der sich obendrein durch gute Linienführung und treffliche Durchsichtigkeit auszeichnete. Insgesamt gelang ihr eine hervorragende Auslotung von Bizets Partitur in flüssigen Tempi.

Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Als Carmen brillierte Kristina Stanek, die der Titelpartie mit pastosem, eindringlichem, ausgesprochen sinnlich eingefärbtem Mezzosopran und trefflichem Legato sehr gerecht wurde. Einen prachtvoll italienisch fokussierten, kraftvollen und viril klingenden Tenor brachte Attilio Glaser in die Partie des Don José ein. Mit solide verankertem, robust klingendem Bass-Bariton sang Lukasz Golinski den Escamillo. Die Micaela von Josefin Feiler zeichnete sich durch einen angenehmen, fein geführten und sauber durchgebildeten Sopran aus. Der Morales von Jakobo Ochoa machte Lust auf mehr. Mit sonorem, bestens italienisch fundiertem Bass wertete Aleksander Myrling die kleine Rolle des Zuniga auf. Alma Ruoqi Sun (Frasquita) und Maria Theresa Ullrich (Mercedes) machten aus ihren mit tadellosen Stimmen bewältigten Partien vokal viel. Durchschnittlich klangen die beiden Schmuggler Dancaire und Remendado von Heinz Göhrig und Alberto Robert. Eine ausgezeichnete Leistung erbrachte der Schauspieler Luis Hergon als das grüne Männchen Surplus. Auf hohem Niveau bewegte sich die Leistung des von Bernhard Moncado einstudierten Chor und Kinderchors.

Ludwig Steinbach, 24. September 2023


Carmen
Georges Bizet

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 22. Oktober 2006
Besuchte Aufführung: 23. September 2023

Inszenierung: Sebastian Nübling
Musikalische Leitung: Ariane  Matiakh
Staatsorchester Stuttgart

Trailer