Die dritte Meinung zu dieser Produktion
Besuchte Aufführung am 17.01.19 (Premiere am 01.12.18)
Schuster bleib bei deinen Leisten
Zunächst freut es auch einen Kritiker ungemein, wenn die Theater annähernd ausverkauft sind, und ein begeistertes Publikum für die Oper gewonnen werden kann; wie es im Staatstheater Braunschweig bei einer Repertoireaufführung von Puccinis "La Boheme" der Fall war. Dazu kam, daß man erfreulich viele jüngere Gesichter im Auditorium sah. Doch leider teile ich als Kritiker in diesem Fall nicht die allgemeine Begeisterung. Schreibe ich mit der Menge oder bewahre ich meine eigene Meinung; letzteres. Aber allein aus künstlerischen Gründen, muss ich Widerworte geben. Tatsache am Erfolg dieser Aufführung ist natürlich Puccinis wundervolle Oper, die mit Recht zu den "Top-Ten" des Repertoires gehört, zum anderen aber die Inszenierung am Staatstheater, die als relativ konservativ gilt, mit einem ansehnlichen Bühnenbild und historischen Kostümen aufwartet und auf den ersten Blick eine unverstellte Bebilderung auf das Original zulässt.
Dagegen ist auch gar nichts einzuwenden, im Gegenteil, ich halte es durchaus für eine Pflicht, pro Saison eine klassische Oper auf konventionelle Art zu geben, damit gerade junge Zuschauer auch mal ein Werk so kennenlernen können, wie es im Opernführer steht. Doch auch da ist gutes Handwerk gefragt – die Negativsteigerung wäre eine hässliche Ausstattung lediglich um des Modernen willen ohne Handwerk. In Braunschweig führte Ben Baur Regie, den ich als hervorragenden Bühnenbildner schätze, doch warum wagen sich in der letzten Zeit immer verstärkter Bühnenbildner an das Regiewerk, wo es doch viele begabte Regisseure gibt, mit denen sie ja auch zusammen arbeiten. Ab und zu gibt es da auch positive Überraschungen, diese "Boheme" rechne ich allerdings nicht dazu.
Zu bemerken ist, das Baurs Inszenierung stets von einer starken, optischen Wirkung ausgeht, die Bühne suggeriert dabei keinen Realismus, sondern stets Kulisse, so der Paris-Vorhang, die sichtbaren Beleuchtungselemente bei Momus, die verkleinerte Bühne des dritten Bildes. Auch finden sich starke unlogische Deutungen, wenn das erste Bild auf dem Dach spielt, warum heizt man "Draussen", statt es sich im Zimmer warm zu machen. Auch das Woher und Wohin scheint mir nicht immer schlüssig. Dann im letzten Bild: wenn die Bohemiens erfolgreiche Künstler geworden sind, welchen Sinn machen die Geldsorgen oder Collins Klage um den alten Mantel?
Daneben manch schönes Detail, manch ungewohnter Gedanke. Ein Armutszeugnis dann das große Chortableaux bei Momus, damit es nicht so auffällt, das die Chorführung weitestgehend in frontaler Schockstarre besteht, werden Jongleure und Tänzerinnen bemüht. Tummelt Euch! Die unnötige Choreographie von Liliana Barro) muss – warum eigentlich gendermäßige Männer als Frauen ? – Can-Can tanzen lassen, obwohl die Musik dazu überhaupt keinen Impuls gibt. Da wird Paris-Klischee aufeinandergehäuft, wie man es bei sehr schlechten Fernseh-Produktionen erwartet. Da nutzen weder die "schönen Bilder", noch die gut gemachten Kostüme (Julia K. Berndt). Man wünscht sich wirklich , das ein guter Bühnenbildner bitte auch ein solcher bleibt und nicht noch einen schlechten Regisseur abgeben muss.
Aus dem Orchestergraben klingt eine sehr pastose, laute Wiedergabe, die die jungen Sänger unnötig zum Forcieren zwingt. Auch hört man einige Unsicherheiten zwischen Bühne und Graben, Ivan Lopez Reynoso scheint da nicht so sehr mit den Sängern zu atmen. Gesanglich waren die Damen sehr stark: die filigrane und doch starke Mimi von Ekaterina Kudryavtseva mit sehr nuancierten Farben, wenn man sie ließ. Und die in jeder Hinsicht vollsaftige Musetta von Anat Edri, selten habe ich einen so schön fraulichen Sopran in der Rolle gehört. Kwonsoo Jeon sang einen weitestgehend zuverlässigen Rodolfo, mit wenig Farben unterhalb von "Mezzoforte", ein "Poet" sollte feiner klingen, zumal die öfters von unten angesungenen Töne Probleme in der Intonation machen. Sehr schön der Kavaliersbariton des jungen Vincenzo Neri, der Marcello sollte jedoch vorerst eine Grenzpartie bleiben, wenn so auf Volumen gesungen wird. Maximilian Krummen und Jisang Ryu komplettieren als Schaunard und Colline das Künstlerquartett auf ansprechendem Niveau. Die Nebenrollen und Chöre sehr zuverlässig, aber szenisch im Stich gelassen, im dritten Bild sogar weginszeniert.
Vielleicht habe ich auch einfach von dieser Aufführung zu große Vorschusslorbeeren gehört, doch ich bleibe bei meiner Meinung, ohne anderen Zuschauern die Stimmung vertreiben zu wollen.
Martin Freitag 24.Januar 2019
Fotos siehe weiter unten die Premierenbesprechungen