Diese Wiederaufnahme der Eröffnungsproduktion der Saison 2017/18 erinnerte nach der missglückten „Fedora“ vom Oktober vergangenen Jahres den Zuschauer daran, dass Mario Martone ein Regisseur ist, der ein an eine genau bestimmte Zeit gebundenes Werk sehr wohl überzeugend in Szene zu setzen vermag. Meine damalige Besprechung sagt das sehr deutlich, indem sie auf die geschickten Bühnenbilder von Margherita Palli verweist, die es mit Hilfe der Drehbühne ermöglichten, den 1. und 2., sowie den 3. und 4. Akt pausenlos zu spielen. Die historisch korrekten Kostüme von Ursula Patzak und die raffinierte Beleuchtung von Pasquale Mari vervollständigten den Eindruck einer werkgetreuen Wiedergabe, an der in keiner Weise zu mäkeln war. Die Produktion wurde jetzt von Federica Stefani betreut und war merklich gut geprobt, denn auch Nebenfiguren und Kleinstdarsteller waren mit schauspielerischer Präzision bei der Sache.
Yusif Eyvazov in der Titelrolle, mit der er seinerzeit an der Scala debütierte, hat seit damals noch viel dazu gelernt. Dass sein Timbre Geschmackssache ist, ist bekannt, aber er hat jetzt – neben seinen immer schon strahlenden Spitzentönen – eine viel breitere Mittellage, die seine Ausdrucksmöglichkeiten beträchtlich erweitert. Auch szenisch war er locker und überzeugend. Gérard war in den ersten vier Vorstellungen Ambrogio Maestri anvertraut, der sich aber an den ersten zwei Abenden von Luca Salsi vertreten lassen musste. In den weiteren drei war Amartuvshin Enkhbat angesetzt, und dies war seine erste Vorstellung (in den letzten zwei soll Jonas Kaufmann die Titelrolle singen). Der Mongole besitzt mit Sicherheit die sensationellste Baritonstimme der jüngeren Generation und bewies das auch an diesem Nachmittag. Welch ein Genuss, dieser vollen, potenten, aber weich timbrierten Stimme zu lauschen, dem perfekten Legato, der makellosen Diktion! Dazu hat er auch gelernt, sich überzeugend zu bewegen und war damit ein Gérard der Sonderklasse. Sonya Yoncheva war darstellerisch von allem Anfang an überzeugend, sie verstand es, auch das verwöhnte, schnippische Mädchen zu sein, das sich dann zur großen, opferbereiten Liebenden wandelt. Wie bei so vielen ihrer mehr oder minder gleichaltrigen Fachkolleginnen ist die untere Mittellage zu schwach entwickelt, was bei bestimmten tiefer liegenden Phrasen fast zu einer Art Sprechgesang führt. Sie versöhnte aber mit strahlenden Höhen, bei denen sie mit ihrem Tenorpartner durchaus mithalten konnte. Ein süffisanter Incroyable der Extraklasse war Carlo Bosi, Francesca Di Sauro eine bewegliche Mulattin Bersi. Teilnahmsvoll, aber mit etwas trocken klingendem Bariton, gab der Spanier Rubén Amoretti Chéniers Freund Roucher (übrigens auch eine historische Figur, die kurz nach dem Dichter gleichfalls guillotiniert wurde). Giulio Mastrototaro sang einen schlitzäugigen Mathieu, und die Studenten der Accademia della Scala Sung-Hwan Damien Park (Fléville) und Huanhong Li (Majordomus und Schmidt) zeigten gute Leistungen. Es ergänzten tadellos Adolfo Corrado (Fouquier-Tinville), Paolo Antonio Nevi (Abbé) und Emidio Guidotti (Dumas). Die meist im Barock tätige José Maria Lo Monaco schien sich mit der Gräfin Coigny stimmlich nicht wohlzufühlen, während Elena Zilio die Szene der Madelon allzu reichlich mit Schluchzern füllte.
Der von Alberto Malazzi einstudierte Chor des Hauses sang wieder einmal phänomenal und übertraf sich in der Szene des Tribunals selbst. Und Marco Armiliato peitschte das Orchester des Hauses zu einer atemberaubenden Wiedergabe, bei der die Spannung den Siedepunkt erreichte. Das sah auch das Publikum so, das alle Arien mit Bravorufen bedankte und den Applaus am Schluss nach neun Minuten nur deshalb abbrach, weil niemand mehr vor dem Vorhang erschien.
Eva Pleus 1. Juni 2023
Umberto Giordano: Andrea Chénier
Teatro alla Scala
Wiederaufnahme am 3. Mai 2023 (Premiere am 7.12.2017)
Besuchte Vorstellung: 21. Mai 2023
Inszenierung: Mario Martone
Bühnenbild: Margherita Palli
Kostüme: Ursula Patzak
Musikalische Leitung: Marco Armiliato
Orchester des Teatro alla Scala