Neapel: „Anna Bolena“, Gaetano Donizetti

Von einem Fest der Stimmen ist zu berichten. Was für ein stilbewusstes Ensemble konnte das Teatro di San Carlo in Neapel für Donizettis Meisterwerk auf der Bühne versammeln und dem begeisterten Publikum präsentieren! Angefangen bei der Interpretin der Titelpartie, Maria Agresta, welche mit ihrem wunderschön timbrierten Sopran die Facetten und Stimmungen der unglücklichen Königin aufs Subtilste aushorchte, eine bewundernswerte Haltung bis ins Delirium zeigte. Ihre reine, unforcierte Stimmführung, ihre feinen Schattierungen und ihre himmlischen Piani vermochten einen zu bannen. Nie ging sie über ihre stimmlichen Grenzen, blieb stets dem schönen, ebenmäßigen Klang verpflichtet und wenn sie ein Acuto wagte, dann musste man nicht um dessen Erreichung bangen.

(c) teatro San Carlo

Annalisa Stroppa als ihre Rivalin und Vertraute, Giovanna Seymour, stand ihr in nichts nach. Auch sie wusste mit Stilsicherheit und grandioser Agilität zu begeistern. Ihr herrlicher Mezzosopran ist von einem einnehmenden, goldenen Farbton geprägt. Catarina Piva ergänzte das Trio der Frauenstimmen mit einer wunderbaren Gestaltung der Hosenrolle des Pagen Smeton. Schmachtend in seinem Liebesbegehren, unglücklich in seiner Entscheidung, Anna retten zu wollen mit einer Falschaussage, mutig seine Folter ertragend. Ganz fantastisch sang René Barbera den Percy, was für ein stilsicherer tenore die grazia! Schlank in der Stimmführung, sicher in der Intonation und überaus versiert in den Koloraturen. Alexander Vinogradov verkörperte mit wunderbar sattem Bass den Womanizer König Enrico VIII. Nicolò Dominik schließlich war ein stimmlich überaus adäquater Rochefort, der auch etwas unglücklich agierende Bruder Annas. Giorgi Guliashvili machte eine stimmlich gute, schon beinnahe zu einnehmende Figur als Sir Hervey. Wunderbar klangschön sang der Chor des Teatro di San Carlo (Einstudierung: José Luis Basso seine rührend kommentierenden Passagen. Riccardo Frizza am Pult des Orchestra del Teatro di San Carlo führte mit federnder Energie und Elastizität durch den Abend, vielleicht hätten etwas angezogenere Tempi der Aufführung nicht geschadet (sie dauerte über vier Stunden), andererseits brachte er durch sein mitatmendes Dirigat die Protagonisten nie in Bedrängnis, diese konnten die Belcanto – Bögen wunderschön fließend aussingen.

(c) teatro San Carlo

Dass der Abend an manchen Stellen etwas langatmig wirkte, lag also nicht an den Ausführenden, sondern an der Inszenierung durch Jetske Mijnssen, im Bühnenbild von Ben Baur und mit den Kostümen von Klaus Bruns. Die Inszenierung ist in einem schmalen Guckkasten, einer Art langem Flur angesiedelt, links und rechts stehen hohe Türen. Die Rückwand ist eine geschlossene, grünlich strukturierte Fläche; durch lautloses Verschieben dieser Wand werden weitere Türen sichtbar, bestimmt bedeutungsschwanger, allerdings hat sich mir diese Bedeutung nicht erschlossen. Käfig ohne Ausweg? Die Roben der Damen weisen in der Üppigkeit der verwendeten Stoffbahnen eher auf die Entstehungszeit der Oper als auf die Epoche der Tudors hin, allerdings finden sich gerade bei den Männern und in der Robe von Klein-Elisabeth eher Akzente an die Mode des 16. Jahrhunderts. Die Farben sind gedeckte Grün – und Blautöne, alles sehr apart. Man kann sich das gut anschauen, bald schon stellt sich aber eine szenische (gepflegte) Langeweile ein. Gerade wenn man sich vor Augen führt, was Tobias Kratzer seinerzeit in Luzern aus dem Stoff dieser Donizetti – Oper gemacht hatte. Jetske Mijnssen hinterfragte die Auswirkungen der Geschehnisse auf die Tochter Annas und Enricos (die spätere Elisabeth I.), ein Kind in einer Oper bewirkt beim Publikum stets einen Jö-Effekt, und so bekam die Interpretin dieser stummen Rolle dann am Ende auch fast mehr Applaus als die SängerInnen der Hauptpartien. Ganz missraten fand ich das Ende: Eigentlich sollte Anna im Kerker vor der Hinrichtung nur den Hochzeitsmarsch und den Jubel des Volkes für das neue Paar Enrico und Giovanna Seymour hören, hier nun öffnete sich der Guckkasten (endlich …) und eine riesige Hochzeitsgesellschaft ganz in Weiß – inklusive eines peinlichen Balletts – bevölkerte die Szene und Anna bewegte sich im schwarzen Unterkleid wie ein bedrohlicher Schatten unter den Hochzeitsgästen. So verpuffte irgendwie der Effekt der Finalarie im szenischen Übermaß.

Kaspar Sannemann, 20. Juni 2023


Anna Bolena

Gaetano Donizetti

Teatro di San Carlo Neapel

17. Juni 2023

Riccardo Frizza

Orchestra del Teatro di San Carlo