Schon vor Beginn der Premiere von Stephen Sondheims Musical „Sweeney Todd“ am 14. Oktober 2023 wurde beim Flanieren durch Foyer und Gänge des Lübecker Jugendstiltheaters klar: Diese Produktion sprengt den Rahmen dessen, was man auch in diesem experimentierfreudigen Haus in der Beckergrube gewohnt ist. Zwischen den teils wohlbekannten Gesichtern des Publikums sah man zahlreiche, oft sehr junge Leute mit bunten Haaren, auffälligen Tätowierungen und auch Kinder – wobei die Webseite des Theaters den Besuch dieses Stückes – zu Recht! – erst ab der 10. Klasse empfiehlt.
Die Gattungsbezeichnung „Musical“ greift hier etwas kurz, denn in „Sweeney Todd“ verband Sondheim 1979 mehrere Genres; der in den 80er Jahren etablierte Begriff des „Grusical“ trifft es ganz gut. Das „Grand Guignol“ als groteske Verformung des Kasperle-Theaters mit Horror-Elementen darf hier ebenso assoziiert werden wie die frühneuzeitliche Tradition der Bänkel- und Moritatensänger. Letzterer Begriff geht auf das Wort „Mordtat“ zurück und damit befinden wir uns schon mitten in der Londoner Fleet Street des 19. Jahrhunderts, wo der ins gesellschaftliche Abseits getriebene Barbier Benjamin Parker unter dem Pseudonym Sweeney Todd und die bislang erfolglose Pastetenbäckerin Nellie Lovett sich zu einer schauerlichen Fusion ihrer Gewerke zusammengefunden haben.
Dem geht eine entsetzliche Vorgeschichte voraus: Da der fiese Richter Turpin es auf die schöne Frau des Barbiers abgesehen hatte, erfand er eine Anklage und schickte den unschuldigen Familienvater ins australische Exil. Geschändet und in den Wahnsinn getrieben, fristet Lucy Parker als Bettlerin ein würdeloses Dasein, während ihre gemeinsame Tochter als Mündel bei dem Richter lebt. Zu einem wunderhübschen Mädchen herangewachsen, will der moralfreie Gesetzesvertreter sie zu seiner Frau machen.
Todd und Mrs. Lovetts Geschäftsgrundlage sind die Leichen der von ihm mit flinker Klinge über den Löffel barbierten, also ins Jenseits bzw. in den Backofen beförderten ahnungslosen Kunden. Mit Menschenfleisch gefüllt sind die Pasteten ein echter Renner – sie schmecken viel besser als das zuvor mit toten Hunden und Katzen gefüllte Backwerk. „Extreme Zeiten erfordern extreme Maßnahmen“, so die Parole. Endziel von Todds Rache ist selbstverständlich der Tod des widerlichen Richters und auf dem Weg dorthin fließt viel Blut.
Dessen Spritzer müssen irgendwo aufgefangen werden und stellt sich dem Premierenpublikum die Frage, ob die riesigen Plastikfolien, die teils auf den Rängen hängen und große Teile des – passend zum demnächst anstehenden Halloween-Wahn – schaurig-schön arrangierten Bühnenbildes von Stephan Prattes mit den großartig gruseligen Lichteffekten von Falk Hampel dominieren, nicht nur trashiges Accessoire einer gigantischen Bad-Taste-Party sind, wie sie in den späten 80er und frühen 90er Jahren beliebt waren. Wie Malerfolien könnten sie dazu zu dienen, daß das blutige Geschäft der beiden Protagonisten so lange als möglich unentdeckt bleibt, denn unter den Planen und dem üppigen Trockeneisnebel lauert das Grauen. Allerdings stellen sie auch eine Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum her, was ohnehin ein Stilmittel der Produktion ist, in der einige der Mitwirkenden manchmal auch im Saal agieren.
Das mörderische Treiben findet in und auf einer karikaturartig gestalteten Bretterbude statt, deren comichaft angedeutete Holzwände im Zuge des florierenden Kooperativs eher notdürftig als liebevoll mit bunten Tapeten collagenhaft beklebt werden.
Wie eine Collage kommen auch die Kostüme von Elizabeth Gressel daher, denn die Hauptfiguren sind wie im viktorianischen England gekleidet, der Chor dagegen trägt punkig-abgerissene Klamotten der Jetztzeit, so als rekurrierten die Sängerinnen und Sänger in der lebhaften Choreographie von Natalie Holtorn vom Heute auf die Vergangenheit in einer Großstadt, die durch Armut und soziale Ungerechtigkeit und infolgedessen Kriminalität und Prostitution geprägt ist. Assoziationen an Figuren wie Jack the Ripper liegen nahe.
Auch in der Musik lassen sich unterschiedliche Einflüsse ausmachen, wie vor allem die von Frederick Loewe im Musical und Bernhard Herrmann im (Hitchcock-) Film, auch Orffs Chormassivität und Weills jazzige Rhythmik grüßen herein. Unter dem neuen 2. Kapellmeister Nathan Bas entfaltet das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck eine mitreißende Dynamik und Klangfülle, die genreübergreifend auch in jene Ohren dringt, die sich sonst eher nicht der Oper zuneigen. Die Besetzung ist hier zwar eher übersichtlich, aber das Orchester erzeugt mit Leichtigkeit eine packende Kraft, in der das vielfältig ausgestattete Schlagwerk dramatische und humoristische Akzente setzt.
Schwierig dagegen ist das Libretto oder vielmehr seine deutsche Übersetzung. Man kennt das aus den Disney-Musicals und längst vorbei sind die Zeiten, als Liedtexte wie die aus dem „Dschungelbuch“ von Übersetzern bearbeitet wurden, die mehr von Reim, Metrum, Silbenlängen und der inhaltlichen Umsetzung verstanden als das heute der Fall ist. So klingen denn auch in „Sweeeney Todd“ viele Passagen wie holprige Direktübersetzungen, manche Reime schrammen hart an denen aus der Kegelclub-Poesie vorbei.
Gut funktioniert das aber fast immer bei den lustig-temporeichen Passagen, vor allem in den Dialogen von Todd und Mrs. Lovett, wenngleich hier offenbar nachbearbeitet wurde. Zwar wird im Programmheft die deutsche Fassung von Wilfried Steiner und Roman Hinze genannt, aber wer das Textbuch näher besieht, entdeckt Abweichungen.
Wunderbar angedeutet und hier auch werkgetreu umgesetzt ist beispielweise die Stelle im ersten Zusammentreffen der beiden Hauptdarsteller, als in der Geschmacksbeschreibung der Pasteten auf „heiße“ eben nicht der erwartete Kraftausdruck gereimt wird, sondern der Satz abgebrochen und anders weitergeführt wird. Das ist charmant und so hätte man es an anderen Stellen ebenfalls lassen können, aber später wird dann eben „in die hohle Hand geschissen“ und nicht, wie im Libretto, die Deftigkeit umgangen. Es ist so schon alles drastisch genug.
Zeilen wie „Ich spür´ dich, Johanna! Ich spür´ dich!“ sind leider in jeder Umsetzung schwer zu ertragen und hier wird eben neben den Pasteten mit Prälatenfleisch auch Schmalzgebackenes gereicht. Das liegt aber eindeutig an der Vorlage und so wirkt das schaurige Treiben mit wohlgeschliffenem Messer und glühendem Ofen wie eine willkommene Brechung der Disney-haften Kitschromantik.
Kenner des Musicals bemerken Streichungen wie zum Beispiel in „Searching“ zum Ende hin, wo die zur irren Bettlerin gewordene Lucy ihrem verlorenen Kind ein groteskes Schlaflied singt. Auch fehlt die Arie „Johanna“ des Richters im ersten Akt; beide Kürzungen haben zur Folge, daß die Figuren an Komplexität verlieren, was ausgesprochen bedauerlich ist.
Caspar Sawade, Geschäftsführender Theaterdirektor, sprach auf der Premierenfeier von Hürden und schließlich bewältigten Konflikten in der Probenarbeit – man kann nur spekulieren, ob er hier Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit von Regisseur Werner Sobotka und Mitwirkenden meinte. Sei´s drum – das Lübecker Ensemble und die künstlerische Leitung des Hauses sind bekannt für ihre hochprofessionelle Bewältigung auch extrem anspruchsvoller Stücke und dafür, wie selbstverständlich und organisch Gäste auch in den großen Rollen in das Miteinander integriert werden. Das hat hier erneut glänzend funktioniert, was auch immer zuvor schiefgelegen haben mag.
Patrick Stanke als mörderischer Barbier legt eine großartige Leistung unter der bei der Rolle grundsätzlich erschwerten Grundbedingung hin, daß er eigentlich ein Sympathieträger und zugleich Massenmörder ist. Gerade die Duette mit Carin Filipčić als seine Geschäftspartnerin Nellie Lovett sind absolute Höhepunkte der Produktion; beide Gäste sind Profis im Genre. Die Mezzosopranistin räumt ordentlich ab und changiert von gekonntem Gequäke zu buhlendem Gurren.
Johanna Barker ist die zum Mündel gemachte Tochter und trotz der gesanglichen Leistung von Elvira Beekhuizen gerät die Rolle etwas eindimensional. Hat sie die Regie in der Gestaltung vernachlässigt? Das mag man sich auch im Falle der Bettlerin fragen, die als ehemalige Ehefrau und Mutter ja weit mehr ist als eine Gossenhure. Andrea Stadel aus dem Ensemble gibt die Gefallene mit bewundernswerter Darstellungskraft in den Facetten des Sich-Anbiederns und Suchens nach mehr als nur Brot und Geld. Hier verbirgt sich die zerrüttete Seele einer Frau, der man alles genommen hat, Familie, Stand und Würde.
Laurence Kalaidjian, ebenfalls Ensemblemitglied, ist mit schmelzendem Bariton der jugendliche Liebhaber Anthony Hope, dessen Nachname schon die Hoffnung in sich trägt, daß er Johanna aus dem Elend führen wird, in das der Richter Turpin sie gebracht hat. Den verkörpert Steffen Kubach, ebenfalls Hauskraft, mit seiner in Lübeck schon legendären Gabe, satirisch überzogene Rollen mit glaubhafter Lebendigkeit zu füllen. Noah Schaul, der dem Gehilfen Tobias Ragg eine bubenhafte Sympathie verleiht, und Gustavo Mordente Eda als Büttel Bamford gehören desgleichen zum Ensemble. Beide schaffen es immer wieder, Nebenrollen mit großem Einsatz in kleine Hauptrollen zu verwandeln.
Franz Gürtelschmied ist die herrliche Karikatur eines italienischen Quacksalbers, an dem alles falsch ist, sein Können und seine Herkunft, denn er ist ein Hochstapler aus dem Londoner Proletariat. Thomas Stückemann als durchgeknallter Irrenhausleiter Mr. Fogg und Simon Rudoff als Vogelhändler verhelfen den kleinen Partien zu komödiantischen Kabinettstückchen.
Gewohnt stark ist der Chor unter Jan-Michael Krüger, der auch in einzelnen solistischen Leistungen überzeugt. Allerdings hätte man sich in den Massenszenen die gewohnten Übertitel gewünscht, auf die in dieser Produktion gänzlich verzichtet wurde. Zugegeben – das Textverständnis ist bei allen Solistinnen und Solisten zeitweise auch dem Chor fast durchweg exzellent, aber man hätte gerne bei allen Passagen gewußt, was die Mitwirkenden singen.
Gewöhnungsbedürftig für das Opernpublikum ist auch der Wechsel von Parlando, Kopf- und Bruststimme sowie die Verwendung von Mikrophonen, aber das ist für Musicalkenner übliche Praxis.
Das blutige Ende soll hier nicht en detail verraten werden, nur soviel: Es ist eine Mischung aus Verdi und Tarantino, mit Drama, Blut und vielen Toten.
Kein Geheimnis ist bereits jetzt, daß der Lübecker „Sweeney Todd“ ein großer Erfolg wird. Es gibt reichlich Szenenapplaus, viele Lacher, Jubel nach dem ersten Akt und stehende Ovationen am Schluß. Sehr viele Leute, die mit opera seria nicht so viel anfangen können, werden hoffentlich ins Theater kommen und begeistert sein, und das ist auch gut so.
Andreas Ströbl, 16. Oktober 2023
Stephen Sondheim,
„Sweeney Todd“
Theater Lübeck
Premiere am 14. Oktober 2023
Musikalische Leitung: Nathan Bas
Inszenierung: Werner Sobotka
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Nächste Aufführungen: 20. und 29. Oktober sowie 12. November.