
Wunderbare Wiederentdeckung einer besonderen Oper, die mit wirklichen Offenbach-Spezialisten nun einen größeren Erfolg feiert als vor 158 Jahren bei der Uraufführung.
Intendantenwechsel am Théâtre des Champs-Elysées: Nach 15 Jahren Amtszeit in teilweise schwierigsten Bedingungen während der Pandemie ist Michel Franck auf eigenen Wunsch in den Ruhestand gegangen. Sein Nachfolger ist sein langjähriger Mitarbeiter, der wesentlich jüngere Baptiste Charroing, der nicht nur im Haus, sondern auch allgemein in den musikalischen Kreisen in Paris hoch geachtet wird. Denn er hat schon erstaunlich viel Erfahrung für seine nur 45 Jahre und viele Pläne für dieses nicht ganz einfache Haus, das keine staatlichen Subventionen bekommt und schon öfters in seiner bewegten Geschichte pleitegegangen ist, wie zum Beispiel kurz nach der Uraufführung 1913 von Strawinskys Sacre du Printemps, ein Meilenstein in der Musik- und Tanzgeschichte, aber für den damaligen Direktor ein finanzielles Desaster. Und dennoch stemmt dieses Theater mit 1900 Plätzen jedes Jahr wieder Produktionen, welche diejenigen der Pariser Oper (die über zehnmal mehr finanzielle Mittel verfügt) in den Schatten stellen. Neben 27 konzertanten Opern und Oratorien gibt es über 100 Konzerte (auch mit den Wiener und Berliner Philharmonikern), mit neuen „Familien-Sonntagen“, da Charroing, selbst Vater von zwei kleinen Kindern, viel daran liegt, die junge Generation ins ehrwürdige und früher eher elitäre Theater zu führen. Bei den traditionell sechs Operninszenierungen und sechs Balletten überrascht er dieses Jahr mit Neuigkeiten. Seine erste Spielzeit begann im September mit einer Hommage an Joséphine Baker, die vor genau 100 Jahren an diesem Theater in Paris mit ihrem berühmten Bananengürtel debütierte. Dazu mit einer neuen Fassung des Sacre du Printemps, der an diesem Haus immer wieder neu gespielt wird (siehe Rezension), jetzt in der Choreografie von Pina Bausch mit Afrikanischen Tänzern aus 13 Ländern. Als erste Oper folgt nun in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane eine absolute Rarität: Robinson Crusoé von Jacques Offenbach.

Robinson Crusoé wird sehr selten gespielt (in Paris zum letzten Mal 1986 an der Opéra Comique), denn es ist in jeder Hinsicht ein sperriges Werk – aus Gründen, die nur mit dem überaktiven Komponisten selbst zu tun haben. 1867, das Jahr der zweiten Weltausstellung in Paris, war vielleicht das größte Glanzjahr im Leben Offenbachs: Alle Könige und Prinzen, bis hin zu Bismarck und dem russischen Zaren, wollten unbedingt Hortense Schneider als La Grande-Duchesse de Gérolstein im Théâtre des Variétés hören und – vor allem – sehen. Gleichzeitig wurden an drei anderen Theatern in Paris auch noch Werke von Offenbach gespielt: Orphée aux enfers in den Bouffes Parisiens, La Vie parisienne im Théâtre du Palais Royal und Geneviève de Brabant in den Menus-Plaisirs. Und als ob dies noch nicht genug wäre, wollte er gerade in diesem Glanzjahr auch noch endlich offizielle Anerkennung am Théâtre Impérial de l‘Opéra Comique. Denn dort war 1860 sein erster Vorstoß, Barkouf vollkommen in die Hose gegangen (siehe unsere Rezension) und der zweite Anlauf, Fédia ou la Baguette wurde 1862 schon während den Proben abgebrochen. Doch wieder wählte Offenbach ein vollkommen unmögliches Sujet für so ein vornehmes Publikum: nach dem Hund Barkouf in Indien, nun den einsamen Robinson von Daniel Defoe (1719) auf einer fernen Insel in der Karibik, mit nur einem Hund (der bald stirbt), einem Papageien und einem jungen „Wilden“ (Vendredi [Freitag]). Das wäre vielleicht etwas für ein Monodram gewesen, aber doch kein Stoff für eine opéra comique (Oper mit gesprochenen Texten) mit drei Akten und fünf Bildern. Da seine üblichen Librettisten, Meilhac & Halévy und Barbier & Carré, mit den anderen Premieren beschäftigt waren, wandte sich Offenbach an Eugène Cormon und Hector Crémieux, mit der Bitte, diesen einsamen Abenteuerroman – ohne eine einzige Frauenfigur! – operntauglich zu machen. Also erfanden die Librettisten drei Pärchen, die bei Defoe gar nicht vorkommen: Robinsons vornehmen Eltern in Bristol, Sir William Crusoe und seine Gattin Deborah (Bass und Mezzo), das hohe Liebespaar Robinson und seine Kusine Edwige (strahlender Tenor und Koloratursopran), das niederer Liebespaar Robinsons bester Freund Toby und das Hausmädchen Suzanne (Tenor und Sopran) und dazu zwei Außenseiter: der Nachbar und ebenfalls Abenteurer (Jim Cocks, Bariton) und natürlich der junge „Wilde“ Freitag. Vendredi (eine Hosenrolle) wurde der großen Sängerin Célestine Galli-Marié auf die Haut und in die Kehle geschrieben. Denn sie war damals der große Star der Opéra Comique und bekannt für ihre Außenseiter-Rollen, seit 1866 die Mignon von Ambroise Thomas (nach Goethe) und ab 1875 die spektakuläre Carmen von Bizet. Doch auch sie hat das Stück 1867 nicht retten können (es gab klägliche 32 Aufführungen), so wie es ihr auch bei Offenbachs Fantasio (1872) nicht gelingen würde (siehe unsere Rezension). Denn das Libretto ist recht konventionell und schwach, während die Partitur fast überbordend in alle Richtungen geht. Deswegen kam es zu Offenbachs Lebzeiten nie zu einer weiteren Aufführung, auch nicht in Deutschland und in Wien (wo er teilweise mehr Erfolg hatte als in Paris). Letztes Jahr an Weihnachten wurde bei der ersten semi-konzertanten Aufführung an der Komischen Oper in Berlin das Stück auf gerade 100 Minuten zusammengeschnitten (siehe Rezension).
Im Vorwort der neuen Edition des großen Offenbach Forschers Jean-Christophe Keck bei Boosey & Hawkes (Offenbach Edition Keck) schreibt der Verleger: „Der vermeintliche Spagat zwischen Opéra-bouffe und Grand Opéra, den die Zeitgenossen Offenbachs Robinson Crusoé vorgeworfen haben, liegt nicht im Unvermögen der Autoren, sich für einen Stil zu entscheiden, sondern in der Konzeption des Stückes, die wiederum eine Grundforderung des Offenbachschen Theaters einlöst: die gegenseitige Durchdringung von Ernst und Komik, wie sie Mozart im Konzept des Dramma giocoso formuliert hatte. In dieser Hinsicht hat Robinson Crusoé Modellcharakter – wir finden es in unterschiedlichen Nuancen aber genauso im Barkouf wie in Fantasio und in Hoffmanns Erzählungen umgesetzt. Die Kunst des „heiteren Dramas“ besteht darin, die Extreme zu formulieren und in eine Balance zu bringen, und in dieser Hinsicht ist Robinson Crusoé tatsächlich ein absolutes Meisterwerk. Leider fehlt bis heute das Verständnis für die Offenbachsche Opéra comique als eigenständige Ausprägung des Genres.“

In Paris erklang nun ein wirkliches Meisterwerk, das nun einen größeren Erfolg hat, als es je zu Offenbachs Zeiten oder seitdem hatte. Was hauptsächlich daran liegt, dass man endlich den genau guten Ton gefunden hat. Dafür braucht man Spezialisten, und das ganze Team besteht aus ausgewiesenen Offenbach-Kennern, anfangend mit dem Regisseur Laurent Pelly, der schon 14 Werke von Offenbach inszeniert hat. Zusammen mit seiner Dramaturgin Agathe Mélinand hat er die langen und teilweise peinlichen gesprochenen Dialoge neu geschrieben und dies mit großem Feingefühl, französischem Esprit und ohne die Vulgarität, die uns (und vielen anderen auch) zum Beispiel bei Barrie Koskys Les Brigands so missfallen hat (siehe unsere Rezension). So wurden aus ursprünglich vier Stunden bei der Premiere 1867 nun 21/2 Stunden Aufführungsdauer mit Strichen, die Offenbach selbst vorgeschlagen hat (Keck ist in diesen Sachen immer sehr genau). Wir waren ehrlich gesagt etwas reserviert von Pellys Bühnenästhetik, als die Fotos der Premiere durch den Blätterwald rauschten (Bühne von Chantal Thomas und Kostüme von Laurent Pelly), doch unsere Vorbehalte lösten sich ganz während des Abends. Denn die Ausstattung drängt sich nicht auf, und alle Aufmerksamkeit geht auf die sehr gekonnte, sehr genaue und vor allem sehr musikalische Personenregie. Die Regie bringt den leichten Schuss von Humor, der dem Libretto leider fehlt, aber in der Musik deutlich zu hören ist. Auf der Bühne sieht man erst das bürgerliche Bristol, aus dem Robinson ausbrechen will und dann – anstatt der fernen Insel in der Karibik – eine Obdachlosensiedlung irgendwo in den USA, wo die Kannibalen kleine, ausländerfeindliche Trumps sind, die ihre Opfer in einem quasi-industriellen EAT-Imbiss zu Hamburgern verarbeiten. Das mag vielleicht befremdlich klingen, aber es funktioniert, weil Pelly hauptsächlich die Musik inszeniert.
Die Sängerbesetzung ist mehr als erstklassig, sie grenzt schon an Perfektion: Stil, Diktion – alles stimmt bis ins kleinste Detail in den vielen, oft rhythmisch gar nicht einfachen Ensembles. Sahy Ratia spielt mit jugendlichem Elan die verträumte Titelfigur und besitzt als „ténor léger“ trotzdem genug Durchschlagskraft, um mit seinen hohen Tönen mühelos über das Orchester zu kommen. Julie Fuchs ist neben ihm als Edwige der zweite Star des Abendsmit extravaganter schauspielerischer Gestaltung. In ihrer halsbrecherischen „Valse chantée“ auf dem Scheiterhaufen „Conduisez-moi vers celui que j’adore” (die auch durch Nathalie Dessay aufgenommen wurde) begeistert sie nicht nur mit präzisen Koloraturen, sondern auch mit feiner Musikalität. Emma Fekete ist eine reizende Suzanne, die mit viel Pikanterie in der Stimme ihren Partner Marc Mauillon um den Finger wickelt, der sich als Toby wieder als ein perfekter Sänger-Schauspieler zeigt. Als Elternpaar passen die alten Routiniers Laurent Naouri und Julie Pasturaud perfekt zusammen (sie arbeiten schon über 30 Jahre mit Pelly und Minkowski!) und auch Rodolphe Briand ist wieder umwerfend komisch als Jim Cocks. Sehr besonders ist Adèle Charvet mit viel jugendlichem Elan und farbenreichem Mezzosopran als Vendredi – man versteht, warum gerade diese Rolle damals am meisten Aufmerksamkeit bekam. Der Chor singt Accentus lupenrein und spielfreudig wie immer.

(das T steht danach für „Trump“). © Vincent Pontet
Es ist eine perfekte Teamarbeit, doch die größte Bewunderung geht für mich an den Dirigenten Marc Minkowski und sein Orchester Les Musiciens du Louvre. Sie haben schon viele Werke von Offenbach auf die Bühne gebracht hat und aufgenommen, aber keines ist so schwierig wie dieser Robinson Crusoé. Denn da Jacques Offenbach beweisen wollte, dass er noch mehr als „vergnügliche Musik“ schreiben kann, hat er unglaublich viele kniffelige Herausforderungen komponiert für die damals besten Sänger und eines der damals besten Orchester in Paris. Die Partitur wirkt wie ein Ozean mit vielen verschiedenen, einander überlagernden Strömungen, als Glanzstück die Symphonie de la mer, die als Entr’acte symphonique den zweiten Akt in der Karibik einläutet. Man hört das Meeresrauschen, den Schiffbruch und dann die Vögel in den Palmen auf der Insel. Doch diese vielen Klangfarben muss man umsetzen können, damit aus den überlagernden Motiven kein Einheitsbrei wird. Da das Orchester auf historischen Instrumenten spielt, ist die subtile Instrumentation jeder einzelnen Sequenz noch besser hörbar, wie auch die vielen kleinen instrumentalen Solopassagen, die wunderbar „aus dem Wasser aufsteigen“. In diesem Sinne ganz besondere Komplimente an den Konzertmeister Stéphane Rougier, die Piccoloflöte von Annie Laflamme und die Harfe von Sylvain Blassel. Beim Schlussapplaus gab es noch eine Überraschung: Während der Dirigent auf der Bühne stand, sprang plötzlich sein junger Assistent Clément Pottier mit einem Satz aus dem Saal in den Orchestergraben und dirigierte mit Verve und Eleganz eine kleine Welturaufführung, das Ensemble „Ah quel charmant garçon“, das Offenbach kurz vor der Premiere gestrichen hatte und Keck nun in einer Bibliothek in New York wiedergefunden hat. Ein glänzender, fröhlicher, eleganter Abschluss!
Das Publikum war begeistert und die Presse feiert diese Produktion als die beste in Paris diesen Herbst, worüber wir uns sehr freuen – für das Werk und für Offenbach, auch wenn dieser Erfolg erst 158 Jahre nach der Uraufführung kommt, für das Team auf der Bühne und im Graben und auch für den neuen Direktor des Theaters Baptiste Charroing. Denn es zeigt sich, dass man für eine erfolgreiche Produktion nicht unbedingt große Namen, aufwändige Bühnenbilder und provokante Regieansätze braucht, sondern Künstler, die sich mit Können in den Dienst eines Werkes stellen, was unter ihren Händen „aufblüht“. Robinson Crusoé wird am 10. Januar 2026 durch France Musique ausgestrahlt und danach zum Streamen verfügbar sein. Hoffentlich wird aus dieser Live-Aufnahme auch eine Platte, denn besser als so kann man dieses Werk wahrlich nicht aufnehmen, und die bis jetzt einzige verfügbare CD ist eine englische Fassung bei Opera Rara. Die Produktion wird ab 10. Mai 2026 im Grand Théâtre in Angers gespielt, ab 29. Mai 2026 im Théâtre Graslin in Nantes und ab 16. Juni 2026 in der Opéra de Rennes. Und – wir wünschen es – hoffentlich danach auch noch anderorts. Denn es lohnt sich absolut diesen „Robinson Crusoé“ kennen zu lernen.
Waldemar Kamer, 16. Dezember 2025
Robinson Crusoé
Jacques Offenbach
Théâtre des Champs-Elysées
Premiere am 3. Dezember 2025
Besuchte Vorstellung: 12. Dezember 2025
Inszenierung: Laurent Pelly
Dirigat: Marc Minkowski
Orchester: Les Musiciens du Louvre
Informationen: www.theatrechampselysees.fr