Zürich: Bernstein, Barber, Elgar

Aufführung am 12.11.2021

Bernstein
DIVERTIMENTO FOR ORCHESTRA

Samuel Barber
Violinkonzert, op. 14

Edward Elgar
ENIGMA VARIATIONEN, op.36

Es ist seltsam, dass es die angelsächsischen Komponisten auf dem Kontinent eher schwer haben, sich wirklich durchzusetzen. Nur vereinzelt tauchen ihre Werke auf den Spielplänen der Konzert- und Opernhäuser auf. Dabei haben sie im 20 Jahrhundert ganz wunderbare Musik geschrieben, die um einiges näher an den Hörgewohnheiten des Publikums war und ist, als es die Kompositionen in der Nachfolge von Schönberg, Berg und Webern in Kontinentaleuropa je waren. Vom gehaltvollen Wert angelsächsischer Kompositionen konnte man sich gestern Abend in der Tonhalle Zürich begeistern und mitreissen lassen, und – gemessen an der Lautstärke des enthusiastischen Applauses- wäre auch hierzulande das Publikum durchaus bereit und dankbar für weitere Begegnungen mit Werken aus Grossbritannien und den Vereinigten Staaten.

Den Abend eröffnete das überaus unterhaltsame, schmissig-kokette DIVERTIMENTO FOR ORCHESTERA von Leonard Bernstein. Fulminante Fortissimi wechselten mit schrägen, sanft wiegenden Walzern, eine Mazurka nur von den Doppelrohrblattinstrumenten gespielt, ein Samba, ein schmerzhafter Trauermarsch der Flöten und gleissendes Blech, das einen Marsch im Stil von Sousa spielte, sorgten für witzige, jazzige Schmunzelmomente und ermöglichten es dem Tonhalle-Orchester Zürich, sich in allen Instrumentengruppen von seiner allerbesten musikantischen Seite zu präsentieren. Man spürte förmlich die Lust am Musizieren, welche vom Dirigenten Paavo Järvi zu den einzelnen Musikern und von da wieder zu ihm zurückfloss. Klasse!

Wunderschön intonierte darauf Alena Baeva auf ihrer Guarneri del Gesù Violine die Solointroduktion zu Samuel Barbers eindringlichem Violinkonzert. Sanft fliessend und mit traumhaft sich dem Ohr einschmeichelnder Tongebung beglückte Alena Baeva in diesem ersten Satz, überirdisch schön setzte sie nach dem tröstlich-entrückten Oboensolo (gespielt von Simon Fuchs) im zweiten Satz ein, der ganze Satz ein purer Cantabile-Traum. Das sanfte Verklingen dieses Satzes gelang dem Tonhalle-Orchester mit einer Piano-Klangkultur, die nicht von dieser Welt zu stammen schien. In den ersten beiden, eher elegisch gehaltenen Sätzen konnte Alena Baeva mit ihrer exquisiten Klangkultur und der Reinheit der Intonation glänzen, im Schlusssatz hingegen brillierte sie mit rasanter Virtuosität, raste mit dem Bogen treffgenau über die Saiten. Denn dieses Perpetuum mobile mit seiner nie erlahmenden Motorik, das Barber hier entwarf, lässt die Solistin keinen Augenblick zur Ruhe kommen. Alena Baeva gelang das Kuststück, den Satz dank präziser Rhythmik und sublimen klanglichen Schattierungen jeglicher Einförmigkeit zu berauben.

Den Schlusspunkt setzten Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich mit einer rundum beglückenden, fulminanten Interpretation von Edward Elgars wohl populärsten Werk, seinen ENIGMA VARIATIONEN. Natürlich begeisterte das Tonhalle-Orchester mit seinem überragenden Gesamtklang, doch Järvi legte auch grossen Wert auf das Hervorheben einzelner Stimmen, die immer wieder organisch aus dem Orchester hochstiegen, wunderbare Kantilenen der Celli, der Bratsche, fein ziselierte Phrasen der Klarinette. Eindringlich gelangen die dynamischen Abstufungen, Ruhephasen wechselten mit aufbäumenden Pointierungen durch strahlendes Blech. Am Ergreifendsten glückte der Übergang von der Variation 8 in die Variation 9 (Nimrod). Als dann die Nimrod-Variation im Pianissimo anhob, sich aus der vollkommenen Ruhe zur gigantischen, Mark und Bein durchdringenden Kulmination steigerte, schien sich der Himmel zu öffnen. Järvi scheute die Effekte nicht, ja er setzte Ritardandi und Accelerandi, Crescendi und Decrescendi sehr genau kalkuliert ein und erzielte so eine Wirkung, die direkt ins Herz der Zuhörer zu zielen wusste. Glasklare Transparenz in beinahe (trotz des Riesenorchesters) kammermusikalischen Passagen wechselte mit aufrüttelnden Sforzati des Orchesters, am Ende durfte man eintauchen in eine sich stetig steigernde Klangflut, die süchtig nach dieser Musik machte. Verdienter Jubel für das Orchester und seinen Chefdirigenten nach diesem mitreissenden musikalischen Ereignis.

Es gibt ein musikalische Welt aus englischsprachiger Komponisten-Feder, die eine Entdeckung und/oder häufigere Wiederbegegnung lohnt!

Kaspar Sannemann, 20.11.2021