Frankfurt: „Die Entführung aus dem Serail“, Wolfgang Amadeus Mozart

Nach der Entsorgung von Kirchners Kult-Zauberflöte dürfte Christof Loys Version der Entführung aus dem Serail die älteste Inszenierung im Repertoire der Oper Frankfurt sein. Bernd Loebe hatte die Produktion vor 21 Jahren aus Brüssel mitgebracht, wo er zuvor Operndirektor war, und sie in seiner ersten Spielzeit als Frankfurter Intendant gleich im Oktober 2003 präsentiert. Im Interview mit dem OPERNFREUND hatte er vor einigen Jahren bekannt, daß er sich bei diesem Werk „kaum noch eine andere Inszenierung vorstellen“ könne. Das Publikum bei dieser Wiederaufnahme-Premiere wird dem aus vollem Herzen zustimmen. Es geht merkbar mit, springt auf den Humor von Text und Inszenierung an, zeigt sich gerührt über die tragischen Momente und spendet nicht nur den Sängern eifrig Szenenapplaus, sondern auch dem aufgeklärten Humanismus des Stückes: „Sage deinem Vater, es wäre ein weit größer Vergnügen eine erlittene Ungerechtigkeit durch Wohltaten zu vergelten, als Laster mit Lastern tilgen.“ Für diesen Satz des Bassa Selim gibt es kräftigen Beifall – und das bei einem 242 Jahre alten Singspiel. Dies zeigt nicht nur die Stärke des Stückes, sondern mehr noch die Treffsicherheit der Regie, der es gelungen ist, beim Publikum eine innere Haltung zu erzeugen.

August Zirner (Bassa Selim) und Adela Zaharia (Konstanze) / © Barbara Aumüller

Wenn das schlechtere deutsche Regisseurstheater ein Sujet aus dem Orient in Szene setzen soll, dann geht es nicht ohne IS-Kämpfer und Frauen im Niqab. Die geneigte Kritik benutzt dann Worthülsen wie „bestürzende Aktualität“, „Brisanz“ und andere feuilletonistische Phrasen, mit denen der Schreiber in erster Linie seine eigene Fortschrittlichkeit dokumentieren möchte. Zu sehen sind dann szenische Zeitungskommentare. Und da nichts älter ist als die Zeitung von gestern, wirken all die Wüstenkämpfer mit ihren Kalaschnikows schon nach einer einzigen Spielzeit zum Gähnen antiquiert. Daß die Frankfurter Entführung dagegen immer noch frisch und lebendig wirkt, liegt daran, daß Christof Loys Regie sich nicht um platte Aktualisierung mit Bildern aus den Abendnachrichten schert, sondern das Stück als solches ernst nimmt und sorgfältig die Psyche der Figuren auslotet. Dabei hilft ihm die Ausstattung von Herbert Barz-Murauer, der die Bühne nicht in orientalischem Plunder ertränkt, sondern in Kostümen und Dekoration sparsame und dafür umso wirkungsvollere Akzente setzt. Ein launiger, niemals platter Humor zieht sich durch den gesamten Abend. Im Kontrast dazu stehen immer wieder ernste Momente des Innehaltens, in denen der Regisseur seine These plausibel machen kann, daß es in dem Stück im Grunde um zwei Frauen geht, die jeweils zwischen zwei Männern hin- und hergerissen sind.

Bei Christof Loy ist die Personenregie mit ihren genau kalkulierten Gesten und Blicken, mit ihrem bewußten Einsatz auch von Stille so minutiös mit den Darstellern der Premiere erarbeitet worden, daß der szenischen Leitung jeder Wiederaufnahme besondere Bedeutung zukommt. Für den aktuellen Zyklus zeichnet Axel Weidauer verantwortlich, der die Produktion bereits als Regieassistent betreut hatte und sich inzwischen als Regisseur mit zahlreichen eigenen Operninszenierungen etabliert hat. Mit großer Sorgfalt und Liebe zum Detail hat er das Regiekonzept mit ungemein spielfreudigen Sängerdarstellern wiederbelebt.

August Zirner (Bassa Selim), Bianca Tognocchi (Blonde) und Adela Zaharia (Konstanze)
© Barbara Aumüller

Seit der Premiere sorgte in allen bisherigen Wiederaufnahmen Christoph Quest für Kontinuität in der Sprechrolle des Bassa Selim, die bei Loy eine große Aufwertung erfährt. Nach seinem Tod im Jahr 2020 ist diese wichtige Partie nun mit dem wegen seiner Film- und Fernsehrollen bekannten August Zirner sehr prominent besetzt. Wie seinem Rollenvorgänger gelingt es ihm, ein vielschichtiges und vor allem glaubwürdiges Porträt seiner Figur zu zeichnen. Wann hat je ein Darsteller in einer Oper für einen reinen Sprechtext Szenenapplaus bekommen?

Am Pult steht Giedrė Šlekytė. Schon das zeigt, welche Bedeutung die Intendanz dieser Wiederaufnahme beimißt, gilt die junge Dirigentin doch als eines der herausragenden Talente ihrer Generation mit Engagements an großen Häusern von Berlin über Hamburg und München bis Zürich. Unter ihrer Leitung spielt das Orchester farbig und pointiert auf, selbstverständlich historisch informiert mit vibratoarmen Streichern, harten Schlägeln bei den Pauken und beredter Phrasierung, ohne dabei trocken und dogmatisch zu wirken. Die junge Dirigentin begleitet die Sänger aufmerksam, betont dabei aber immer den Reichtum des Orchestersatzes.

Adela Zaharia (Konstanze), Magnus Dietrich (Belmonte) und August Zirner (Bassa Selim)
© Barbara Aumüller

Die Gesangspartien sind mit einer Ausnahme neu besetzt. Einzig Michael Porter hatte bereits in der letzten Wiederaufnahme 2017 den Pedrillo in dieser Inszenierung gesungen und spielt nun seine Rollenerfahrung mit beinahe übermütiger Spiellust aus. Dabei kommt ihm auch zugute, daß er seinen amerikanischen Akzent nahezu vollständig abgelegt hat und die vielen Sprechtexte in klarer Diktion und mit großem Humor gestalten kann. Seine Stimme entspricht mit ihrer Saftigkeit dabei nicht dem Rollenfach eines Spieltenors, aus dem heraus üblicherweise ein Pedrillo besetzt wird. Vielmehr könnte er problemlos auch den Part des Belmonte übernehmen, was ihn zu dessen ebenbürtigem Partner macht. In dieser Partie debütiert der neu zum Ensemble gestoßene Magnus Dietrich. Vor wenigen Monaten hatte er sich als geradezu idealer Tamino in der Zauberflöte präsentiert, mit leuchtenden Höhen und einem virilen Kern. Das attraktive Timbre der Stimme bestimmt auch seine Interpretation des Belmonte. Im Vergleich zu Porter ist sie mit einer Prise mehr Stahl ausgestattet, was man zuletzt auch bei seinem Walter von der Vogelweide im Frankfurter Tannhäuser hören konnte. Deswegen muß es nicht erstaunen, daß den Koloraturen, die ein Belmonte im Gegensatz zu einem Tamino zu bewältigen hat, ein wenig die Leichtigkeit abgeht.

Eine jugendlich-dramatische Anlage mit perfekter Koloraturgeläufigkeit zeigt dagegen Adela Zaharia, die mit der Konstanze ein glänzendes Hausdebüt bestreitet. In ihrer ersten Arie „Ach ich liebte, war so glücklich“ kommen leise Zweifel auf, ob die Stimme nicht vielleicht ein wenig zu groß für diese Partie sein könnte. Die Koloraturen gelingen zwar wie gemeißelt, zugleich stellt sich der Eindruck einer gewissen Härte ein. Diesen Eindruck kann die Sängerin mit einem berückend innigen „Traurigkeit ward mir zum Lose“ vollständig zerstreuen, um dann das Publikum mit der technisch und gestalterisch fulminanten Martern-Arie zu begeistertem Zwischenapplaus hinzureißen.

Thomas Faulkner (Osmin) und Bianca Tognocchi (Blonde) / © Barbara Aumüller

In idealem Kontrast dazu steht Bianca Tognocchi mit ihrem Rollendebüt als Blonde. Sie verfügt über einen leichten, aber im Volumen durchsetzungsfähigen Sopran vom Typ Soubrette, mit dem sie traumhaft sicher und gewitzt durch die Koloraturen segelt, dabei in Wiederholungen stilvoll weitere Auszierungen hinzufügt. In ihrer Spielfreude und Lebendigkeit ist sie mit charmantem italienischen Akzent eine perfekte Partnerin für den quirligen Michael Porter, aber auch für Thomas Faulkner als rachsüchtigen Haremswächter Osmin. Den gibt er stimmlich souverän mit für diese Partie ungewöhnlich schlankem und jugendlichem Baß. Die wichtige Frage ist bei einem Osmin immer: Bekommt er die tiefen Töne hin? Faulkner bekommt sie (fast) alle hin und riskiert auch einige abgründige Tiefen dort, wo andere in die Oktave ausweichen.

Der Chor ist an wenigen Stellen gefordert und zeigt dort seine in dieser Spielzeit immer wieder gerühmte Klasse mit homogenem und klarem Klangbild.

Trotz brütender Hitze an diesem Abend und dem parallel laufenden EM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft war der Saal gut gefüllt und blieb es auch über den Verlauf von über dreieinhalb Stunden (inklusive zweier Pausen). Das Publikum feierte alle Beteiligten so, als sei dies eine Premiere gewesen.

Michael Porter (Pedrillo), Bianca Tognocchi (Blonde), Adela Zaharia (Konstanze) und Magnus Dietrich (Belmonte) / © Barbara Aumüller

Ein stimmlich in allen Partien ausgezeichnet besetztes Ensemble belebt mit ansteckender Spiellaune diese ideal zu nennende Inszenierung und wird von einem zupackenden Dirigat dabei unterstützt. So weist diese Wiederaufnahme eine Frische und Lebendigkeit auf, die es mit jeder Neuproduktion aufnehmen kann.

Michael Demel, 30. Juni 2024


Die Entführung aus dem Serail
Wolfgang Amadeus Mozart

Oper Frankfurt

Wiederaufnahme am 29. Juni 2024
Premiere am 19. Oktober 2003

Inszenierung: Christof Loy
Musikalische Leitung: Giedrė Šlekytė
Frankfurter Opern- und Museumsorchester